Auf Entdeckungsreise

Roman | Jörg Magenau: Die kanadische Nacht

»Warum weiß ich von meinem eigenen Vater weniger als von manchen Figuren, über die ich als Biograf geschrieben habe?« Diese Frage stellt sich der Protagonist im Romandebüt des bekannten Literaturkritikers Jörg Magenau. Von der ersten Seite an sieht sich der Leser mit der Frage konfrontiert, wie stark autobiografisch die Figur des Ich-Erzählers ist und wo der Autor bewusst fiktionalisiert haben könnte. Von PETER MOHR

Magenau, 1961 in Ludwigsburg geboren und heute abwechselnd in Tübingen und in der Uckermark lebend, hat in der Vergangenheit brillante biografische Bücher über Martin Walser, Christa Wolf, Gottfried Benn, die Brüder Ernst und Georg-Friedrich Jünger sowie über die Freundschaft zwischen Siegfried Lenz und Helmut Schmidt geschrieben.

Magenaus Ich-Erzähler, wie er selbst ein eifriger Biograf und Kulturjournalist, reist nach vielen Jahren der Kontaktlosigkeit ans Sterbebett seines Vaters, eines Allgemeinmediziners mit großer Affinität zu Hölderlin, der vor Jahrzehnten nach Kanada ausgewandert ist.

Es geht um ein doppeltes Fremdheitsgefühl – in einem Land, das der Ich-Erzähler als »vollkommen fiktiv« bezeichnet, und dazu gesellt sich der fremd gewordene Vater. Die Fahrt vom Flughafen in Calgary durch die einsamen Weiten hin nach British Columbia in den nördlichen Rocky Mountains erinnert an ein Roadmovie, an eine schmerzhafte Entdeckungsreise, die in einer selbst zerfleischenden Lebensbilanz mündet.

Neben der Begegnung mit dem unbekannt gewordenen Vater quält sich der Protagonist auch noch mit einem gescheiterten Buchprojekt herum. Er sollte die Biografie eines verstorbenen Universalkünstlers schreiben, der einst in einem Künstlerdorf lebte, das Worpswede nicht unähnlich ist und der in Berlin gestorben war. Doch die Witwe, die er einige Male besucht hatte, untersagte die Veröffentlichung: »Ihre Schrift zitterte geradezu vor Empörung, wenn sie an den Rand schrieb: ›Herr Biograph, woher wissen Sie das?‹« Eine Wohnung, die wie ein Museum daher kam, in der man von Hinterlassenschaften und Arrangements des Verstorbenen erschlagen wurde und wo man (ob gewollt oder ungewollt) den Geist des Künstlers inhalierte. Bei diesen detaillierten Beschreibungen läuft Jörg Magenau zu absoluter erzählerischer Höchstform auf.

Auch die eingewobenen Rückblenden auf die Berliner Intellektuellenszene der frühen 1990er Jahre (auch hier gibt es wieder deutliche Parallelen zur Vita des Autors) sind leichthändig und charmant, mit durchaus selbstironischem Unterton geschrieben: die kinderlose Ehe, die neue auf- wie anregende Beziehung zu einer Philosophin. Das hat Witz, das wirkt stimmig, und dem Ich-Erzähler, der immer wieder höchst intelligent über die nicht zu leugnenden Einflüsse durch die eigene Familie philosophiert, folgt man bereitwillig wie einem langjährigen Kumpel.

Der gewaltige Turnaround ereignet sich am Sterbebett des Vaters, der Protagonist offenbart einen handfesten Minderwertigkeitskomplex. Er habe das Gefühl, sich nur Leben angeeignet zu haben, bedeutenden Figuren allenfalls über die Schulter geschaut, aber nichts Bleibendes selbst geschaffen zu haben. Er sei »ein Dokumentarist aus Mangel an Phantasie«. Da lässt Jörg Magenau seine Figur ziemlich abrupt kippen und schickt sie einigermaßen schutzlos in eine tiefe Sinnkrise. War der Tod des Vaters tatsächlich der Auslöser? Hatte er gar erlösende, befreiende Wirkung für den Sohn? Oder gibt es hier am Ende die große Bruchstelle zwischen Autobiografie und Fiktion?

»Das eigene Leben ist auch etwas, was man konstruiert. Das fügt sich zu einem Bild, das sich aber erst im Erzählen herstellt«, befindet Magenaus Protagonist. Die Gratwanderung zwischen Vater-Sohn-Geschichte, Künstlerroman und metaphorischer Entdeckungsreise (nach Kanada, zum sterbenden Vater und zum eigenen Ich) macht den Reiz von Magenaus literarischem Erstling aus. Es ist ein großes Buch über das Fremde, über das Entfremdetsein und über das Sich-Selbst-Entfremden – ganz im Sinne von Wilhelm Müllers Zeilen, die durch Schuberts Winterreise berühmt wurden: »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh‘ ich wieder aus.«

| PETER MOHR

Titelangaben
Jörg Magenau: Die kanadische Nacht
Stuttgart: Klett-Cotta 2021
195 Seiten. 20.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Von tanzenden Großmüttern, dem Plusquamperfekt und anderen Überraschungen

Nächster Artikel

Überwältigend schön

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Das Kind, das schreibt

Roman | Hanns-Josef Ortheil: Der Stift und das Papier Mit sieben Jahren kann das Kind zwar geübt Klavier spielen, aber nicht sprechen. Den Weg vom stummen Ausgestoßenen zum anerkannten Schriftkundigen und Sprachvirtuosen beschreibt Hanns-Josef Ortheil ergreifend in seinem neuesten Roman. Der Stift und das Papier haben eine tragende Rolle darin. Von INGEBORG JAISER

Die letzte Jagd

Roman | Elisabeth Herrmann: Schatten der Toten Mit Schatten der Toten beendet die Berliner Autorin Elisabeth Herrmann ihre Trilogie um die Tatortreinigerin Judith Kepler. Noch einmal bringt sie alle Figuren zusammen, die in den beiden vorangegangenen Bänden eine Rolle spielten: Ost- wie Westagenten aus den Zeiten des Kalten Krieges, ihren nach dem Untergang der DDR unter dem Namen Bastide Larcan in den internationalen Waffenhandel abgetauchten Vater, den Undercover-Ermittler Frederick Meißner und dessen Tochter Tabea, Judiths Chef Klaus-Rüdiger Dombrowski, der für sie fast mehr empfindet als für die eigenen drei Töchter, und die inzwischen vom BND zum Verfassungsschutz gewechselte Isa Kellermann,

Abschied vom Vater

Roman | Karl Ove Knausgård: Sterben Mit ›Sterben‹ beginnt K.O. Knausgård einen sechsteiligen Erzählzyklus. Dem Buch & Autor eilt die Fama eines fortlaufenden Skandals voraus. Der 1968 geborene Karl Ove Knausgård habe mit seinem sechsteiligen autobiografischen Roman-Projekt ›Mein Kampf‹ für heftige Diskussionen in Norwegen gesorgt, weil der heute im schwedischen Malmö lebende Autor den Stoff der Bücher unverblümt aus seinem Leben genommen habe. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Egoismus ist die einzige Konstante

Roman | Annette Mingels: Was alles war »Anfangen, Weitermachen, Lieben, Verlieren, Finden« – so lauten die Kapitelüberschriften, die wie inhaltliche Wegmarken fungieren, in Annette Mingels fünftem Roman Was alles war. Während die promovierte Literaturwissenschaftlerin in ihren Vorgängerwerken Die Liebe der Matrosen (2005) und Tontauben (2011) fragile Zweierbeziehungen unter die Lupe genommen hat, schickt sie nun eine Mittvierzigerin auf schmerzhafte familiäre Spurensuche. Von PETER MOHR

Anfang und Ende

Kurzprosa | Barbara Honigmanns: Chronik meiner Straße »Wenn wir sagen, dass wir in der Rue Edel wohnen, antwortet man uns meistens, ach ja, da haben wir am Anfang auch gewohnt.« So lautet der erste, beinahe programmatisch anmutende Satz in Barbara Honigmanns autobiografischer Skizze über jene Straße im Osten Straßburgs, in der sie seit ihrer Übersiedlung aus Ost-Berlin im Jahr 1984 lebt. Barbara Honigmanns Chronik meiner Straße – in einer Rezension von PETER MOHR