Geschichten für Kinder gibt’s überall, auf der ganzen Welt werden sie erzählt – ganz gleich, wohin man schaut. Warum nicht einmal gleich über den Zaun in ein Nachbarland? Der NordSüd Verlag hat sich etwas besonders Feines ausgedacht und einen dicken Band herausgebracht, der elf der schönsten Schweizer Bilderbuchgeschichten enthält. Von MAGALI HEIẞLER
Das Schöne an Geschichtenbüchern ist, dass man nicht vorne anfangen muss, um hinten aufzuhören. Man kann mitten hineinspringen, die Finger wählen lassen, den Zufall oder eine Vorliebe. Geschichtensammlungen sind köstliche Pralinenmischungen für Kopf und Gemüt gleichermaßen. Der Verlag hatte es angesichts seiner reichen Bestände an wunderbaren Bilderbüchern sicher nicht leicht mit der Auswahl. Was vorliegt, ist exemplarisch für die Erzähltradition der Schweiz und zugleich kühn zukunftsweisend in der künstlerischen Gestaltung.
Es gibt klassische Tiergeschichten und das Heidi, Hänsel und Gretel und ein nacherzähltes Schweizer Märchen, Fabeln und Fantastisches. Die Erscheinungsjahre der Geschichten erfassen gut ein Jahrhundert, von Spyris ›Heidi‹ 1880 an gerechnet. Eine der großen Überraschungen dieses Bands ist es, dass keine der Geschichten plüschig oder vorgestrig wirkt.
Vom guten Erzählen
Beschränkt man sich zunächst auf die Texte, stellt man schnell fest, dass alle Geschichten etwas gemeinsam haben. Sie sind schlicht erzählt, linear aufgebaut. Da ist kein Wort zu viel, es wird nicht gefaselt, jede Anbiederei an ein kindliches Publikum fehlt. Es gibt auch nichts offen Belehrendes, obwohl sie Lehren zuhauf enthalten. Die Geschichten werden von klaren moralischen Überzeugungen getragen.
Allerdings wird nichts vorgekaut. Manches mag behäbig wirken, etwa die zugrunde liegende Aussage in mindestens zwei Tiergeschichten, dass man zu Hause am besten aufgehoben ist. Die Überzeugung wird jedoch nicht platt serviert. Im Gegenteil wird der Raum für Abenteuer weidlich genutzt. Hans Fischers Pitschi, das Kätzchen auf der Suche nach sich selbst, darf eine gute Handvoll Lebensentwürfe lustvoll durchexerzieren, zur größten Freude der Leserin. Ähnlich gestaltet ist ›Das schwarze Schaf‹ von Eleonore Schmid. Beide Geschichten werfen zudem die Frage auf, ob die Gefahren und sogar unangenehme Folgen davon, etwas anderes zu tun, Belohnung oder Strafe sind. Wer nur zu Hause am Trog bleibt, erlebt auch keine Abenteuer.
Erstaunlich gebrochen ist die Geschichte, die Max Bolliger vom Hasen mit den blauen Ohren erzählt. Der Held scheitert in seinem Bemühen, so zu sein wie andere, erwirbt dabei aber eine Menge nützlicher Fähigkeiten. Das ist ein unerwarteter Blick auf den klassischen Fall, dass jemand mit seinem Anderssein nicht zurechtkommt. Eine weitere Variation kommt bei Mischa Damjan ins Spiel, der seinen Helden ganz offen Verweigerung und freien Willen zugesteht (Der Clown sagte Nein), mit einem guten, zeitgemäßen Ende. Allein in der Komposition der Erzählungen lassen sich hervorragend Linien ziehen, inhaltlich, moralisch, erzieherisch, erzählerisch. Das Buch bietet weit, weit mehr als bloße Geschichten.
Märchen, Märchenhaftes und Fantastisches nehmen einigen Raum ein, ebenso variantenreich wie die eher dem Alltag verhafteten Geschichten. Wunderschön das Wintermärchen (Ernst Kreidolf), in dem Schneewittchen einen Auftritt hat, quicklebendig und charmant. Zauberisch und geheimnisvoll dagegen die Wiedergabe einer alten Sage von Eveline Hasler (›Die Nacht im Zauberwald‹)
Düster, geradezu erschreckend wirkt das alte Märchen ›Hänsel und Gretel‹ (illustriert von Felix Hoffmann). Auch wenn es die Heldinnen und Helden der anderen Geschichten nicht leicht haben, so sind sie nie der Brutalität ausgesetzt, die der Volksmund weiterträgt. Das gilt auch für die eine Erzählung in Schwyzerdütsch, ›Joggeli wot go Birli schüttle‹ (mit Übersetzung ins Hochdeutsche), bei der man sich am Ende besser nicht ausmalt, was passiert, als endlich alle doch in Aktion treten.
Überwältigende Illustrationen
Mag die inhaltliche Ähnlichkeit der Geschichten nicht für alle reizvoll sein, so überzeugt unleugbar die gestalterische Vielfalt. Zur Erinnerung: es handelt sich um eine Zusammenstellung von Bilderbüchern, zu unterschiedlichen Zeiten erschienen und von elf Künstlerinnen und Künstlern ausgestattet, die drei verschiedenen Generationen angehören. Sie in einem Band versammelt zu sehen, ist atemberaubend. Ein Fest für Kennerinnen und Kenner, ist es für Laien geradezu berauschend. Die unterschiedlichen Stile sind in der Abfolge der Geschichten nicht hart kontrastiert, sondern haben Verbindendes. Wasserfarbe folgt auf Wasserfarbe, abgetönt-pastelliges Großformatiges auf fragiles Winterzartes, hell-bunt auf dunkel-bunt. Trotzdem kann man sich die Gegensätze nicht groß genug vorstellen. Schon von daher lohnt es sich, das Buch sehr langsam durchzublättern. Man muss sich einlassen, um den Schatz zu erkennen, der da aufgelegt wurde.
Grafikdesigner, Plakatkünstler, Glaskünstler, Grafikerin, Maler, Buchillustratorin, sie alle waren am Werk. Die Liste ihrer Namen ist eine Liste von Berühmtheiten, nicht nur Schweizer. Käthi Bhend, Felix Hoffmann, Eleonore Schmid, Celestino Piatti, oder Hans Fischer gehören zu denen, die die Bilderbücher gestaltet haben. Die Vielfalt ist enorm, die jeweiligen Interpretationen beeindruckend. Großflächig, sich dem Text unterordnend oder überordnend, raffinierteste Perspektiven, satte Farben oder zarte Pinselstriche, Paneele, die unvermutet zum Guckkasten oder zu Fenstern werden, aus denen man auch herausschauen kann, alles kann die Betrachterin hier finden. Herbes und Liebliches, schwarz-weiß und bewusst eingeschränkte Farbpaletten, verwirrend-bedrohliche Formgebung (Käthi Bhend, ›Die Nacht im Zauberwald‹) und Überwältigendes durch schiere Größe – etwa die Bäume in Märchen ›Hänsel und Gretel‹, die trotz klarer Begrenzung in endlose Höhen zu ragen scheinen und neben denen die Kinder doppelt klein und schutzlos wirken, die Entwürfe sind kühn und kühn ausgeführt.
Bücher für Kinder müssen nicht niedlich sein, Putziges sucht man vergebens, Harmonie hat nichts mit süßer Lieblichkeit zu tun.
Dass der Verlag darauf verzichtet hat, die Berühmtheit in dem Buch aufzunehmen, an die man umgehend denkt, wenn der Verlagsname fällt, passt zu dieser Sammlung, die einfach auf echte Größe angelegt ist. Der Regenbogenfisch schwimmt hier also nicht vorbei. Marcus Pfister ist trotzdem dabei. Womit er auftritt, ist eine weitere Überraschung in diesem herrlichen Band, der rundum Freude bereitet, beim Lesen, Vorlesen und besonders beim Betrachten. Das gilt für alle Altersgruppen.
Titelangaben
Eulenglück und Hasenleid. Ein Schweizer Bilderbuchschatz
Zürich: NordSüd Verlag 2018
235 Seiten, 30 Euro
Geschichtenbuch für alle
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander