Zuckersüß und mächtig spannend

Kinderbuch | Lisa Graff: Eine Messerspitze voll Magie

Zauberei und Kindergeschichten sind altehrwürdige Partnerinnen und kommen deswegen nicht selten auch in Ehren ergraut daher. Alles andere als behäbig aber ist der Kinderroman von Lisa Graff ›Eine Messerspitze voll Magie‹. Eine Handvoll originelle Ideen, kühne Verwicklungen, ein Dutzend schräger Figuren und ausführliche Kuchenrezepte zum Nachbacken garantieren zuckersüße und mächtig spannende Lektüre. Von MAGALI HEISSLER

messerspitzeZunächst verschwindet auf höchst mysteriöse Weise ein Koffer, puderblau ist er und birgt ein Geheimnis. Dann treffen wir Cadence, Cady genannt. Obwohl sie gerade mal elf ist, ist sie leidenschaftliche Kuchenbäckerin. Ihre Kuchen gelingen immer. Das liegt nicht an ihrer Kunstfertigkeit im Backen, sondern daran, dass sie ein Talent hat. Sie bäckt ihre Kuchen jeweils abgestimmt auf eine ganz bestimmte Person. So wird das Ergebnis perfekt.
In der Welt, in der sie lebt und die der unseren ziemlich ähnlich ist, ist Cadys Talent zwar schön, aber nicht besonders ungewöhnlich. Hier hat nämlich jede und jeder ein Talent. Abgesehen von ein paar weniger Glücklichen, den Mittlingen oder Mittelmäßigen. Das Angenehme am Talent allerdings ist, dass man es auch als Mittling an sich entdecken kann.

Cady gewinnt mit ihrem Talent jeden Backwettbewerb, ihr eigentlicher Wunsch, Adoptiveltern zu finden, aber scheint unerfüllbar.
Unerfüllbar scheint auch der Wunsch von Marigold, etwa in Cadys Alter, ihr eigenes Talent zu finden. Oder das Bemühen eines alten und wenig freundlichen Mannes, einen bestimmten puderblauen Koffer aufzutreiben. Gleiches gilt für die Versuche einer alten Frau, ihre Sprache wiederzufinden, und die Sehnsucht eines kleinen Jungen, ein echtes Abenteuer zu erleben.

Das sind nur einige der Ausgangspunkte, aus denen eine Geschichte entsteht, wie sie verwickelter kaum sein könnte. Gut, dass der, der sie am Laufen hält, ein Talent für Knoten hat.

Verwirrung garantiert

Graff ist eine versierte Autorin von Kinder– Jugendbüchern und zieht hier alle Register ihrer Kunst. Sehr viele Register zieht sie gleichzeitig, der Effekt ist dementsprechend überwältigend. Es geht Schlag auf Schlag. Zum einen mutet sie der jungen Leserinnenschaft gleich einen Zeitsprung von dreiundfünfzig Jahren zwischen dem Diebstahl des Koffers und Cadys Geschichte zu. Dann marschieren überraschend viele Figuren auf, die jede für sich auch noch einen Perspektivwechsel mit sich bringen. Der Handlungsablauf wird abwechselnd erzählt, wobei die jeweils persönlichen Probleme, von der Talentsuche bis zur Koffersuche über Elternsuche, ideales Kuchenrezeptsuche, Identitätssuche, Abenteuersuche oder der Suche nach dem Frettchen Sally im Vordergrund stehen, ohne dass die vorher entstandenen Fragen in irgendeiner Weise der Lösung näher gekommen wären. Die Verwirrung ist schon nach zwanzig Seiten garantiert.
Hier ist eine Autorin am Werk, die Kindern sehr viel zutraut an Leseverständnis, Neugier, der Bereitschaft, sich auf eine wirklich verrückte Geschichte einzulassen. Hier werden Kinder nicht bedient und zur Bequemlichkeit verführt. Alle Achtung!

Eine Überraschung ist auch die Sprache, von Alexandra Ernst schön ins Deutsche gebracht. Sie ist weder Jargon-lastig noch beschränkt im Vokabular. Es gibt wunderbare Ausdrücke wie »puderblau«, »zielgenau«, »haarklein« oder ein »merkwürdig seitwärts gewandtes Grinsen«. Hier wird Kindern keine Sparsprache zugemutet. Auch denkerisch werden sie in hohem Maß beansprucht, es gibt einiges an Lebensphilosophie, die man sich erarbeiten muss.

Falsche Fährten und richtige Zusammenhänge

Nicht nur ein langer Zeitraum, auch drei Familien mit drei Generationen spielen eine wichtige Rolle. Die Figuren geraten dabei quicklebendig. Das machen zum einen die jeweiligen Talente aus, Spucken, z.B., aber auch die Geheimnisse, die die Personen umgeben. Graff legt viele falsche Fährten, die man aber nicht vernachlässigen darf, will man am Ende die richtigen Zusammenhänge verstehen. Bestimmte Gegenstände spielen eine Rolle, ein Talentarmband, ein zerlesener Kriminalroman und sogar ein Heißluftballon.

Die Geschichte sprüht vor Einfällen, selbst Talente haben eine Form – das ist wörtlich zu nehmen – und eine Horde Eichhörnchen erlebt die Überraschung ihres Lebens. Die Spannung ist von Anfang an so hoch, dass man über weite Strecken auch die zunehmende Verwirrung erträgt. Dass die Einzelkapitel, die Sichtweise der jeweiligen Figuren, meist kurz gehalten sind, sowie die Perspektivwechsel an sich, erweisen sich als hilfreich, weil man immer wieder einmal innehalten kann beim Lesen und nachdenken.

Tatsächlich ist dieses Buch keine einfache Lektüre. Man kann sich von der Spannung mitreißen lassen und auch lustvoll die Kuchen nachbacken. Noch schöner aber ist es, wenn man die Puzzlestücke einsammelt und versucht sie zusammenzusetzen. Denn die Geschichte ist ein Puzzlespiel, ein ziemlich vertracktes.
Aber Puzzeln ist eben auch ein Talent und wer es nicht hat, die kann ihr Talent hier vielleicht entdecken. Wie die Geschichte zeigt, ist so etwas immer möglich.
Die schöne Ausstattung, das witzige und treffende Cover (Felicitas Horstschäfer) und die liebevollen Innenillustrationen (Irmtraud Guhe) sind die perfekte Abrundung für dieses Buch.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Lisa Graff: Eine Messerspitze voll Magie
(2013 A Tangle of Knots, übers. von Alexandra Ernst)
Berlin: Ueberreuter 2014
215 Seiten. 12, 95 Euro
Kinderbuch ab 10 Jahren

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

And It’s You That Is The Lovegod

Nächster Artikel

»Buchtitel Nr. 73: Es könnte ein bisschen wehtun«

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Kann das weg?

Kinderbuch | Rachel Poliquin: Das Museum der unnützen Körperteile

Ein Museum, ein Buch zum Nachschlagen und Lernen, das soll spannend sein? Oh ja! Denn es ist ein Buch, das sich um ganz abenteuerliche Dinge dreht, Dinge, die alle mit dir oder mir oder uns zu tun haben. Eine Überraschung!, findet BARBARA WEGMANN

Übernachtungs-Besuch

Kinderbuch | Jenny Westin Verona: Kalle und Elsa lieben die Nacht

Ich gebe zu, auch heute übernachte ich gern ab und zu woanders: in einem Hotel bei einem Städtetrip, in einer Pension im Urlaub, bei Freunden nach einer Party. Aber um wie viel aufregender war das alles früher, wenn man bei der besten Freundin übernachtete, die Matratzen auf dem Boden lagen, die Süßigkeiten rundum, wenn der Fantasie so gar keine Grenzen gesetzt wurden … erinnert sich BARBARA WEGMANN

Zauberhafte Pflanzenrätsel

Kinderbuch | Cornelia Funke und Tammi Hartung: Das grüne Königreich

Manchmal warten Abenteuer da auf einen, wo man überhaupt nicht darauf gefasst ist. So geht es Caspia, die drei lange Sommermonate mit ihren Eltern in Brooklyn verbringen muss und den geplanten Ferienfreuden mit ihrer Freundin in Maine nachtrauert. Doch dann entdeckt sie in einer alten Kommode Briefe, die ein blindes Mädchen in den 1950er Jahren an ihre Schwester geschrieben hat. Von ANDREA WANNER

Warum nicht mal Wunder

Kinderbuch | Mike Revell: Wundervogel Wunder gibt es nur in Märchen? Sicher, wenn man es mit der Physik punktgenau nimmt. Manchmal tut es aber auch gut, das eine oder andere Rätsel ungelöst zu lassen und sich an den Lösungen zu freuen, die sich unvermutet ergeben haben. Zum Beispiel eine gute Geschichte. Von MAGALI HEISSLER

Böse Ferien

Kinderbuch | Sabine Ludwig: Schwarze Häuser    In schwarzen Häusern wohnen böse Zauberer – im Märchen. In der Wirklichkeit muss das Haus nicht schwarz sein und seine Bewohner keine magischen Gestalten. Im vorliegenden Fall ist es ein Kinderferienheim und das Übel steckt in denen, die für das Haus und die Kinder zuständig sind. Ihnen bereiten sie böse Ferien. Sabine Ludwig hat für ihr neues Kinderbuch ›Schwarze Häuser‹ keine fantastische Geschichte bemüht, sie erzählt einfach, wie es einmal gewesen ist. Von MAGALI HEISSLER