Das Leben als Elegie

Roman | Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal

Bei Regen im Saal – der neue Roman von Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino. Von PETER MOHR

Genazino_978-3-446-24596-9_MR1.indd»Wenn ich mich genug geschämt habe, werde ich befreit sterben dürfen«, lautete eines der quälenden Selbstzeugnisse der Genazinofigur Gerhard Warlich aus dem Roman Das Glück in glücksfernen Zeiten (2010). Wir erinnern uns: Der promovierte Philosoph arbeitete mehr als ein Jahrzehnt in einer Wäscherei und landete (mit sich selbst im Einklang) am Ende in der Psychiatrie.

Dieses Schicksal bleibt dem neuen Genazino-Protagonisten Reinhard zwar erspart, aber ansonsten könnte er wahrhaftig ein Warlich-Zwillingsbruder sein – auch er promovierter Philosoph, auch er ein auf skurrile Weise gescheiterter Akademiker mit den aus den Vorgängerromanen bekannten Beziehungsproblemen.

Jener Reinhard ist Anfang vierzig und trägt in seinem tiefsten Innern durch seine dominante Mutter ausgelöste frühkindliche Schädigungen mit sich herum; er hat als Nachtwächter und Barkeeper gearbeitet, ehe er einen Job als Lokalredakteur beim Taunus-Anzeiger fand. Die Beziehung zu seiner Dauerfreundin Sonja, einer ehrgeizigen Finanzbeamtin, verläuft (kein Wunder!!) höchst kompliziert.

Die Genazino-Figuren lösen bei ihren Partnerinnen nämlich keine erotischen Gefühle aus, sondern wecken Mutterinstinkte und setzen Beschützerreflexe in Gang. Bei Sonja ist es ähnlich. Sie will seine Unterwäsche austauschen, sein äußeres Erscheinungsbild verändern und ist doch irgendwann erschöpft vom alltags-untauglichen Kantianer, der so gern an den Brüsten der Finanzbeamtin saugt, zieht die Beziehungsnotbremse und heiratet einen Kollegen.

Wie bei allen Genazino-Figuren ist auch bei Reinhard das Leben in eine leichte Schieflage geraten. Ein wackelnder Backenzahn, büschelweise ausgehende Haare, neben der Waschmaschine sterbende Nachtfalter: Es sind vermeintliche Marginalien, die sich aber sukzessive zu handfesten Störungen auswachsen und Reinhard etwa über eine Form der »Halbgeborenheit« reflektieren lassen.

Die Figuren des 71-jährigen Wilhelm Genazino pendeln stets zwischen Flaneur und Streuner, zwischen Müßiggänger und Penner. Sie sind keine lautstarken Weltverbesserer, sondern haben sich einen kommoden Mikrokosmos des Scheiterns eingerichtet. Ein wenig hilflos sind sie allemal, richtig unglücklich nicht, denn sie scheinen sich mit ihren Lebensverhältnissen arrangiert zu haben. So geht auch Reinhard mit großer Freude auf seine endlosen Spaziergänge durch Frankfurt.

Auch dahinter steckt ein bekanntes Genazino-System: Der Antiheld mit all seinen psychischen »Blessuren« entwickelt bei seinen »Touren« eine sehr selektive Wahrnehmung. Vor allem die negativen Dinge seines Lebensumfeldes stechen ihm ins Auge: die  architektonische Sünden, leerstehende Ladenlokale, verfallende Häuser, unendliche Brachflächen. Diese von subtiler Beobachtungsgabe zeugenden Sequenzen lesen sich wie eine »Ästhetik« des Verfalls.

»Mein Leben verwandelte sich mehr und mehr in eine Elegie, an der ich allmählich Gefallen fand«, heißt es (völlig zutreffend) über die mal träumende, mal trauernde, zumeist jedoch in Selbstmitleid zerfließende Hauptfigur.

Erst durch ein überschwängliches Lob für seinen Roman Ein Regenschirm für einen Tag (2001) im »Literarischen Quartett« des ZDF wurde das Werk des Georg-Büchner-Preisträgers des Jahres 2004 einer größeren Öffentlichkeit bekannt. »Ich weiß selber keinen richtigen Grund dafür, warum ich jetzt auf einmal Erfolg habe«, bekannte Wilhelm Genazino in einem Interview.

Eigentlich hat er schon immer (seit seiner »Abschaffel«-Trilogie) auf hohem literarischem Niveau geschrieben, und immer schon standen liebenswerte, leicht skurrile »Verlierer« im Mittelpunkt seiner Romane, die stets eine Gratwanderung zwischen Komik und Tragik, zwischen Leid und Selbstmitleid, zwischen Verlierer und Verweigerer präsentierten.

Und irgendwie ist jener Reinhard aus Genazinos neuem Roman (wie all die anderen männlichen Anti-Helden aus den Vorgängerwerken) ein ganz enger Seelenverwandter von Dieter Rotmund aus dem Roman Mittelmäßiges Heimweh (2007), der auf die Frage nach seinem Wohlbefinden knapp antwortete: »Ich vereinsame gerade.« Nur drei Worte, ein Prozess der schmerzhaften Rückentwicklung, aber niemand kann dies so präzise in Worte kleiden und daraus so unglaublich berührende Romane komponieren wie Wilhelm Genazino.

| PETER MOHR

Titelangaben
Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal
München: Carl Hanser Verlag 2014
158 Seiten. 17,90 Euro

Reinschauen
| Wilhelm Genazino in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der überwältigende Charme des Alltäglichen

Nächster Artikel

Verloren im Toten Meer

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Die Rache des Phantoms

Roman | Alex Beer: Felix Blom. Der Häftling aus Moabit

Berlin 1878. Als der Dieb und Betrüger Felix Blom nach drei Jahren Einzelhaft wieder freikommt, stehen zwei Dinge auf seiner Agenda: sich an dem Mann zu rächen, der ihn mit einem hinterhältigen Trick ins Gefängnis gebracht hat, und wieder in jene Kreise aufzusteigen, in die er es schon einmal geschafft hatte. Allein er hat mächtige Widersacher. Die Polizei sähe den raffinierten Burschen, der sie jahrelang an der Nase herumgeführt hat, am liebsten wieder sicher verwahrt. Und sein Konkurrent um die Gunst der schönen Auguste Reichenbach, Baron Albert von Mesar, beeilt sich, der begehrten Bürgerlichen einen Antrag zu machen, um nicht noch einmal ins Hintertreffen zu geraten. Und schließlich ist da auch noch ein Psychopath mit Todesankündigungen unterwegs, auf dessen Schwarzer Liste Blom ziemlich weit oben zu stehen scheint, ohne dass er weiß, womit er sich diese zweifelhafte Ehre verdient hat. Von DIETMAR JACOBSEN

Alles ist in Bewegung

Roman | Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre Der 57-jährige österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein ist bekannt dafür, dass er keinen großen Bogen um brisante Themen macht. Nach dem Balkankrieg (›Das Handwerk des Tötens‹) und einer gegen Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz gerichteten Roman-Persiflage (›Die ganze Wahrheit‹) hatte er sich zuletzt in seinem Roman ›In der freien Welt‹ (2016) mit dem Nahostkonflikt auseinander gesetzt. Jetzt ist Norbert Gstreins neuer Roman ›Die kommenden Jahre‹ erschienen. Von PETER MOHR

Schreiben, um nicht umzukommen

Roman | Antje Ravik Strubel: Blaue Frau

»Man hat ohnehin schon das Problem der Scham und des Schuldgefühls, wenn einem so etwas widerfährt. Überhaupt diese Schwelle zu überwinden, davon zu erzählen. Und dann wird man noch damit konfrontiert, dass einem der Vorwurf der Lüge gemacht wird. Das ist eine sehr heikle Situation. Das fand ich wichtig, darüber zu schreiben«, erklärte die in Potsdam lebende Autorin Antje Ravik Strubel über die gedankliche Vorgeschichte ihres neuen Romans, in dem sexualisierte Gewalt eine zentrale Rolle spielt. Zur Verleihung des Deutschen Buchpreises 2021 schreibt PETER MOHR

Zwei Killer auf einen Streich

Roman | Stephen King: Kein Zurück

Kaum hat Privatdetektivin Holly Gibney ein vollkommen durchgeknalltes Professoren-Ehepaar unter Lebensgefahr zur Strecke gebracht – Holly (2023) –, wartet schon der nächste Fall auf die Frau, die ihrem Erfinder Stephen King in letzter Zeit immer mehr ans Herz zu wachsen scheint. Diesmal ruft ein juristisches Fehlurteil, das einen Mann für eine Tat, die er nicht begangen hat, ins Gefängnis schickt und dort umkommen lässt, einen Rächer auf den Plan. Trig, wie der sich von der ersten Seite an nennt, hat sich vorgenommen, 12 Unschuldige anstelle der 12 Geschworenen, deren Urteilsspruch das Leben eines Unschuldigen besiegelte, und jenen Staatsanwalt, der um der eigenen Karriere willen Beweisstücke unterdrückte und deshalb in Trigs Augen der Hauptschuldige ist, zu töten. Und als er loslegt, geschieht das in einem solchen Tempo, dass die Polizei kaum hinterherkommt. Aber Detective Izzy Jaynes hat ja noch ihre neue Freundin Holly Gibney. Und obwohl die gerade als Personenschützerin für eine prominente Feministin unterwegs ist, kann sie die Chance, sich an der Jagd auf einen gefährlichen Serienmörder zu beteiligen, nicht ausschlagen. Von DIETMAR JACOBSEN

Voll die Sozialapokalypse

Roman | Simone Lappert: Der Sprung

Der Sprung mischt eine scheinbar ehrenwerte Kleinstadt gehörig auf und entlarvt brüchige Lebensentwürfe. Mit ihrem zweiten Roman ist der Zürcher Autorin Simone Lappert ein großer Coup gelungen: eine schillernde Milieustudie, ein moderner Episodenroman in bester Short-Cuts-Manier und obendrein eine Nominierung für den Schweizer Buchpreis. Von INGEBORG JAISER