Der überwältigende Charme des Alltäglichen

Kinderbuch | Emma Adbåge: Mickan ist ganz zufrieden mit sich

In Kinderbüchern muss etwas passieren, heißt es. Am besten Abenteuer und das am laufenden Band. Egal, ob Verbrecherjagd, Gespenster oder Familienprobleme, Hauptsache, es wird rasant. Dabei übersieht man leicht, dass nicht alle Kinder gleich sind. Manche ziehen ihr Vergnügen daraus, das ganz Alltägliche zu betrachten. Dass das einen eigenen, überwältigenden Charme entwickelt, beweist die junge schwedische Autorin Emma Adbåge mit Mickan ist ganz zufrieden mit sich. Von MAGALI HEISSLER

MickanMickan ist ein ganz normales Mädchen, findet sie. Das stört sie auch nicht, auffallen ist das Letzte, was sie sich wünscht. Sie hat es gerne ruhig. Im Kreis anderer Kinder ist sie ein bisschen schüchtern, so manches macht ihr Angst. Sie beobachtet das Geschehen lieber, als dass sie mitmischt. Das Beobachten hat sie zu nicht wenigen Einsichten gebracht. Die sind zum Teil klarsichtiger als so manche Einschätzung Erwachsener. Wenn es um das alberne Verhalten von Mädchen geht, sobald ein Junge dazukommt, etwa. Oder warum Wandertage absurd sind, sogar wenn der Kompass funktioniert. Oder wie lästig es sein kann, wenn man wirklich richtig hübsch ist, so wie Elin Viksten aus der vierten Klasse.
So still Mickan auch ist, sie hat zu vielem eine Meinung, eine eigene. Und sie weiß, was sie will. Dass das Leben nicht einfach ist, weiß sie auch. Kompromiss und Diplomatie lebt sie, obwohl sie mit ihren knapp acht Jahren diese Begriffe noch gar nicht kennt. So ist z.B. ganz klar, dass man nicht flucht, wenn Oma in der Nähe ist, weil Oma das nicht schätzt. Das muss Mickan niemand erklären.

Was in Kindern steckt

Adbåge lässt ihre kleine Heldin sprechen. Den unverbildeten Blick und die präzise Sprache von Kindern kennt sie genau. Sie weiß auch, was passiert, wenn kompliziertes Denken Erwachsener und das eigentlich völlig schlüssige Weltbild von Kindern aufeinanderstoßen. Am Beispiel der kleinen Mickan zeigt sie, was in Kindern steckt. Wie anpassungsfähig sie sind, wie liebebedürftig und liebevoll. Wie wichtig es ist, sie ihre Wege gehen zu lassen, unauffällig behütet. Zuviel Behüten tut nicht gut. Mickan ist jemand, die Angst bekommt, wenn Regeln zu starr sind. Wenn man den Teller leer essen muss, wenn man sich im Unterricht melden muss oder Fußball spielen, obwohl es schrecklich wehtut, wenn einer der Ball an die Backe donnert.

Die Welt, die Adbåge zeichnet, ist eine liebevolle. Mickan hat Glück mit ihren Eltern, sie sind großzügig und fantasievoll. Der Freiraum, den sie Mickan gewähren, ist die Gewähr dafür, dass sich Mickans Neugier entwickelt, ihre Regeln Zeichen des Zusammengehörigkeitsgefühls von Eltern und Kind, das Mickan auch braucht. Andere Formen der Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen gibt es in der Schule, zwischen Lehrerin und Klassengemeinschaft, zwischen Kindern und Mensapersonal, aber auch zu Fremden auf der Straße. Und ganz wichtig sind die Beziehungen der Kinder untereinander.

Den Alltag bewältigen

Was Mickan Tag für Tag erlebt, scheint trivial, hat für Kinder aber größere Dimensionen. Da gibt es das Nachbarsmädchen, ein wenig älter, die immer mit Mickan spielen will, sie tatsächlich aber beherrschen. Mickan wehrt die Übergriffe auf ihre Art ab. Sebbe in der Klasse stört den Unterricht, Pecka quasselt dauernd, Natalie ist tödlich albern, und dass Mickan in der Schneewittchen-Aufführung einen der Zwerge spielen soll, ist ja wohl kaum zu fassen für ein schüchternes Kind. Gut, dass es zwischendurch eine Ablenkung gibt, weil jemand die Fische aus dem Klassenzimmer entführt hat. Dass Mama aber beim Ausflug ins Schwimmbad Mickans Badeanzug vergisst, ist einfach eine Katastrophe.

Adbåge lässt die kleine Heldin mit Witz und trockenem Humor erzählen, in vielen kurzen Kapiteln, die aus der Geschichte ein Geschichtenbuch machen. Drei Monate lang folgt man der Kleinen, ihrem Staunen, der Verwunderung, dem Ärger, ihrem Glück. Sogar einen ganz bösen Gedanken vertraut sie einer an.
Sie reflektiert viel, über sich und die Welt. Nicht wenige Gedanken verblüffen mit ihrem Tiefsinn. Mickan ist rundum ehrlich, auch sich gegenüber, das macht die Geschichten so überzeugend. Den Alltag bewältigen ist eine Herausforderung eigener Art, welches Kind muss sich dem nicht stellen?
Ausgestattet ist das Buch mit den Zeichnungen der Autorin. Sie ist Illustratorin und hat schon viele Bilderbücher herausgebracht. Die Figuren sind lustig und wuseln voller Lebendigkeit über die Seiten. Dass Mickan selber am liebsten zeichnet, ist kein Zufall.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Emma Adbåge: Mickan ist ganz zufrieden mit sich
(Jag är jag, 2011)
Aus dem Schwedischen von Helene Hillebrandt
Hamburg: Hamburg Rowohlt Rotfuchs 2014
125 Seiten, 12,99 Euro
Kinderbuch ab 7 Jahren

Reinschauen
Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mädchenträume

Nächster Artikel

Das Leben als Elegie

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Tiefer und immer tiefer …

Kinderbuch | M.Barnett: Sam & Dave graben ein Loch / T.Kuhlmann: Maulwurfstadt Das, was nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, sondern sich im Erdboden versteckt, war schon immer spannend. Neugierig graben sich zwei Bilderbücher in die Erde. ANDREA WANNER entdeckte zwei echte Schätze.

Eichelhäherische Lektion

Kinderbuch | Michael Stavarič: Piepmatz macht Wald aus euch!

Wenn die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur den »Piepmatz« zum Buch des Monats Oktober 2022 und der Deutschlandfunk das Bilderbuch als eines der besten sieben Kinderbücher im September küren, muss doch etwas dran sein. BARBARA WEGMANN hat nachgeschaut.

Wünsche, Wölfe, Wunder

Kinderbücher | Wer hat den Schnee gestohlen? / Suppe, satt, es war einmal Wer glaubt, dass alle Geschichten auserzählt sind, irrt sich. Geschichten lassen sich nämlich miteinander kombinieren und so wird aus Altbekanntem etwas ganz Neues. Eine Detektivin-Geschichte über verschwundenen Schnee, z.B. oder Wölfe-zähmen-Scheherazade. Unglaublich, aber wahr. Ein Wunder, eben. Von MAGALI HEIẞLER

Kampf dem Irrtum und Vorurteil

Kinderbuch | Jon Agee: Auf der anderen Seite der Mauer

Wir stellen uns eine hohe Mauer vor. Und wir wissen, dass auf der anderen Seite etwas ganz Schreckliches ist. Etwas wirklich Ungeheuerliches. ANDREA WANNER blätterte in diesem spannenden Bilderbuch.

Sozialverhalten will gelernt sein

Kinderbuch | Olivier Tallec: Das ist mein Baum

Eichhörnchen erobern erfahrungsgemäß schnell das Herz von kleinen Lesern, aber, zugegeben, dieses hat auch mein Herz erobert. Seine Lebendigkeit, seine fast trotzige Art auf etwas zu bestehen, sein Einsatz für etwas und schließlich eine ganz unerwartete Erkenntnis. Von BARBARA WEGMANN