Episoden der Erinnerung

Roman | Jean-Michel Guenassia: Eine Liebe in Prag

Der große Romancier Jean-Michel Guenassia legt seinen neuen Roman Eine Liebe in Prag vor. Auch diesmal verbindet er sein Erzähltalent, das er bereits in Der Club der unverbesserlichen Optimisten (2011) unter Beweis gestellt hat, mit einem Hauch von Sentimentalität und Mentalitätsgeschichtlichem. Das gereicht dem Buch nicht unbedingt zum Nachteil – findet HUBERT HOLZMANN.

Guenassia Liebe PragDer Autor Jean-Michel Guenassia, geboren in Algier, wohnhaft in Paris, weiß spätestens seit seinem preisgekrönten Debüt von 2011, wie er seine Leser zu fesseln vermag, indem er sie nämlich mit auf eine »Lebensreise« nimmt. Diesmal begleitet er allerdings seinen Helden nicht in die rauchschwadengeschwängerte Welt der Pariser Dissidenten-Schachclubs der rive gauche, sondern es geht nach Prag: Die Geschichte beginnt in den 20er Jahren und endet im Jahr 2010. Die Stationen dazwischen: Paris und Algier. Dann die Rückkehr in die »Goldene Stadt«.

Und Jean-Michel Guenassia tischt dabei diesmal ordentlich »tschechische« Klischees auf, sinniert über den »von Natur aus verträumten« Tschechen und nennt seine Hauptfigur Josef Kaplan. Diese Namenverwandtschaft mit Josef K. aus dem Prozess ist nicht zufällig gewählt. Und wie manch Prager Stadtführer auf seinem Stadtrundgang den berühmten Sohn der Stadt schon aus diversen Fenstern unterschiedlicher Prager Stadthäuser hat blicken lassen, so werden an verschiedenen Stellen im Buch Erinnerungen an Kafka wach. Guenassia setzt dabei gelegentlich schon ziemlich markante Hinweise. Einmal wird über Kafkas Werk diskutiert. Andere Passagen über das Spitzelwesen und den Geheimdienst scheinen direkt dessen Werk entliehen zu sein.

Ein Panorama des 20. Jahrhunderts

Doch zurück zum Inhalt. Eine Liebe in Prag erzählt in drei Abschnitten die Lebensgeschichte von Josef Kaplan: von dessen Studienzeit in Prag und Paris, von seiner Zeit als Forscher am Institut Pasteur in Algier, wo er seine spätere Frau Christine kennen lernt, und von der Heimkehr nach Prag. Hier wird seine Tochter Helena eine wichtige Rolle spielen.

Zunächst geht es um die Hauptfigur Josef Kaplan und seinen Vater. Josef Kaplan entstammt einer alten jüdischen Arztfamilie und studiert wie alle seine Vorfahren Medizin in Prag. Jedoch engagiert sich Josef, anders als sein Vater, in seiner Studienzeit bereits im sozialistischen Kampf und unternimmt antiklerikale Aktionen, weshalb er Prag 1935 verlassen muss und sein Studium in Paris fortsetzt. Seinen Studien am biologischen Institut widmet er sich mit beinahe extremistischer Arbeitswut, zugleich taucht er in den wenigen Pausen in den Nachtstunden in die Halbwelt der Pariser Tangoszene ein, wo er als Tangotänzer bei den Damen brilliert.

Sein Pariser Aufenthalt fällt genau in die Zeit des spanischen Bürgerkriegs. Viele seiner Bekannten und Freunde kämpfen und fallen auf Seiten der Kommunisten. Josef Kaplan allerdings sieht die Aussichtslosigkeit des Kampfes. Bleibt auch dadurch am Leben. Mit bestandenem Examen beabsichtigt er nach Prag zurückzukehren, ihm wird jedoch eine Stelle als Forscher in Algier angeboten. Und er setzt nach Nordafrika über. »Algier, die Weiße« – »der erste Eindruck, der ihm einfiel, jenes Licht aus schmelzendem Gold, … Vanilleduft, … das Surren des Krans … dieses Glühen … ein paradiesisches Blau, wie er es noch nie gesehen hatte«. – All dies stellt sich als Glücksfall für Josef heraus. Er entrinnt dem Terror der Nazis im annektierten Tschechien.

In Algier setzt er sein Pariser Doppelleben als Forscher und Tangotänzer fort. Dem Vater schreibt er lange Briefe nach Prag. Die Antworten werden spärlicher. 1940 nach der Kapitulation Frankreichs wird er bis Kriegsende in einer kleinen Forschungsstation in den Bergen untertauchen. Die Schergen des Terrors können ihn wiederum nicht fassen.

Nach dem Krieg beschließt er dann doch nach Prag zurückzugehen und findet in Christine, einer mehr oder weniger erfolglosen Schauspielerin, eine Begleitung, nicht nur für die Reise. Sie wird die Mutter seiner beiden Kinder Helena und Martin. In Prag versucht er an das Leben der Vorkriegsjahre anzuknüpfen. Allerdings hat sich vieles verändert. Das politische System in Tschechien hat sich in den Jahren nach dem Krieg verändert. Klare Verhältnisse fehlen. Josef Kaplan betätigt sich in der Sozialistischen Partei, bis in den stalinistisch geprägten 50er-Jahren einige seiner besten Freunde und Mitstreiter verschwinden.

Diese Erfahrung desillusioniert ihn. Als auch noch seine Ehefrau Christine, die sich nur sehr eingeschränkt künstlerisch betätigen kann, eine Auslandsreise nach Frankreich nutzt, um mit ihrem gemeinsamen Sohn Martin aus der Tschechoslowakei zu fliehen, resigniert Josef endgültig. Er rechnet mit seinem Leben ab, »startet eine große Aufräumaktion«, zerreißt alle Erinnerungsfotos und wirft alle Erinnerungsstücke an die gemeinsame Zeit mit Christine weg.

Politisch ist er nach der Flucht seiner Frau nicht mehr in Prag haltbar. Er muss die Hauptstadt verlassen und ihm wird in der tschechischen Provinz die Leitung eines Sanatoriums übertragen. In dieses Exil wird ihn seine Tochter Helena begleiten. Dann bricht die Zeit des Prager Frühlings an und bringt eine spürbare Verbesserung der Lage. Der neue Aufbruch hält nur kurz an, das Pendel der Diktatur schlägt nach dem Einmarsch der Russen um so weiter zurück. Josef Kaplan muss miterleben, wie seine Tochter Opfer einer Geheimdienstintrige wird. Auch nach dem Ende des Kalten Kriegs wird sein Kampf gegen die (post)sozialistischen Windmühlen weitergehen.

Robinsonade mit einem Freiheitskämpfer

Josef Kaplan ist von Grund auf ein einsamer Mensch trotz seiner Tango-Künste, trotz Nachtleben und einiger guter Freunde. Sein Defizit: Er ist kein Physiognom. Ihm fehlt die Gesichtserkennung. Eine Wiederbegegnung mit einem Gegenüber macht dies schier unmöglich. So scheitert eine engere Bindung zu Viviane, einer Pariser Freundin, schlichtweg daran, dass Josef sie eines Tages einfach vergisst. »Und dann, eines Abends, vergaß er Viviane. Unglaublich, nicht wahr? Wie ausradiert. … Ihr Abendessen, ihre Soireen im Nogent, ihre Liebesnächte – ausgelöscht, leer.«

In absoluter Einsamkeit versenkt er sich ebenfalls in seine Forschungsarbeit: Nächtelang ist er allein. In der Versuchsanstalt in den algerischen Bergen, einer Malariagegend, steigert sich diese Isolation noch. Er legt seine Identität ab, arbeitet unter falschem Namen. Sein mönchisches Leben dauert hier fast vier Jahre. Zeugnis dieser Zeit wird ein Journal das er in unregelmäßigen Abständen führt. Lakonisch notiert er zu Beginn: »Heute beginnt mein Robinson-Leben.«

Dieser Rückzug ins Alleinsein, seine Eigensinnigkeit retten ihm das Leben: »Wenn ich den Mut gehabt hätte, hätte ich gekämpft und wäre bereits tot. Letztendlich geht es mir wie meinem Namensvetter in Der Prozess, in die Ecke gedrängt in einer logischen und unverständlichen Welt.« Guenassia zitiert außer Kafka noch weitere Werke der Weltliteratur, so wird Josef Kaplan kurz vor Ende des Kriegs in Algier Zeuge der Pest – Camus sei erinnert! – und überlebt auch diese. »Malerisch« und überschwänglich rhapsodisch hebt Guenassia an zu erzählen:  »Algier, die Sündige, strömte zuhauf in die Kirchen, man betete, …, man flehte, …, man schlug sich an die Brust, …, und man gelobte.«

Auch die Zeit als alter Mann, als er in der böhmischen Provinz mit seiner Tochter ein Sanatorium führt, wird zum einsamen Asyl: »Niemand mochte diese schroffen und feindlichen Landschaften, diese düsteren Felder, diese trostlosen Weiten, diese kahlen Wälder. Außer Helena. Diejenigen, die hier lebten, fürchteten die endlosen Winter, die grauen Tage, an denen nie die Sonne schien. Außer Helena.«

Und in diese Unwirklichkeit des Provinziellen hinein tritt eine äußerst geschichtsträchtige Figur: »Ramon«, der Comandante aus Kuba, alias Che Guevara, der sich im sozialistischen Bruderstaat einer Malaria-Behandlung unterziehen will. Der behandelnde Experte heißt Josef Kaplan. All dies klingt nach einer witzigen fiktiven Erzählidee von Guenassia. Ist es auch. Wenigstens zum Teil.

Denn historisch belegt ist dieser Tschechien-Trip des Freiheitskämpfers in seinen letzten Lebensjahren. Die kurze Affäre mit Helena wird zu einem erzählerischen Glanzpunkt im Roman. Die Unmöglichkeit der Beziehung ist vorgezeichnet, das Tragödie ebenso. Ein Jahr nach dem Bruch kommt Helenas Sohn Antonin zur Welt. Exakt am 9. Oktober 1967, der zugleich Helenas 19. Geburtstag ist und ein Tag großer Trauer wird, denn die Todesnachricht von Che Guevara erreicht sie: »Dieser Geburtstag war der letzte ihres Lebens, den sie feierte… Ich, Helena Kaplan, bin die Einzige auf der Welt, die die Wahrheit kennt. Und niemand auf der Welt wird sie erfahren. Seit seiner Abreise vor einem Jahr war ich ohne Nachricht von ihm, aber ich hatte immer die irrsinnige Hoffnung, ihn wiederzusehen.«

Volver oder Die Rückkehr in die Vergangenheit

Jean-Michel Guenassia erzählt seine Geschichte stellenweise mit ironischer Distanz, aber auch mit viel Pathos und Hingabe. Er erklärt: »Man kann eine Geschichte auf zweierlei Weise schreiben: während des Geschehens, im Augenblick, da es stattfindet, oder sehr viel später mit ausgeruhtem Kopf und zeitlichem Abstand, wenn die Leidenschaften abgekühlt sind.« Abgekühlt ist sein Roman nicht, auch wenn er immer wieder kurze Reflektionen einstreut: über das Erzählen, über Josef Kaplans Persönlichkeit, über die historischen Momente des 20. Jahrhunderts.

Und diese historischen Zäsuren sind zahlreich im Buch: Die Kapitulation Frankreichs 1940 bedeutet Josefs Weg ins Exil. Die Landung der Alliierten im September 1944 führt ihn zurück in die Zivilisation. Am Tag des Waffenstillstands überschreitet er mit Christine die Schweizer Grenze und erlebt kurzzeitig die absolute Freiheit und glückliche Momente. Später wird er bei der Auflösung des Lagers Theresienstadt im Juni 1945 anwesend sein. Zusammen mit Helena feiert er 1966 den bemerkenswerten Eishockey-Finalsieg der Tschechen über die Russen 1966 und auch der Mauerfall spielt eine Rolle.

Dennoch ist Guenassias Eine Liebe in Prag kein historischer Roman. Die Spuren der »Herzschmerz«-Sentimentalität werden bereits im Anflug wieder verwischt, das Wissen um eine große Liebe ist immer auch das Wissen um die Unmöglichkeit der Liebe. Auch ist der Text mehr als ein bloßer Familienroman. Guenassia schreibt einen politischen Roman, einen Reiseroman, einen Ost-West-Roman, einen Dissidentenroman. Bei der Rückkehr in Prag lässt er einen alten Bekannten aus seinem Club der unverbesserlichen Optimisten auftreten: den Tschechen Pavel, der später »als politischer Flüchtling nach Paris« geht und dort seine Zeit mit »den Freunden, die sich in einem Schachclub« treffen, verbringt.

Fast kann man Eine Liebe in Prag auch einen utopischen Roman nennen, denn alles, was Josef Kaplan erlebt und erfährt, scheint darauf hinauszulaufen, dass es schicksalhaft verankert ist. Josef Kaplans Geschicke werden gelenkt, nicht von ihm selbst: »Hätte ich meinem Impuls nachgegeben, dann wäre ich jetzt tot.« So klingen die Reiseerlebnisse von Josef Kaplan manchmal beinahe so fantastisch wie die des jungen Candid in Voltaires gleichnamigen Roman. Beide Helden gehen nicht freiwillig auf Reisen, werden hinaus getrieben, sind auf der Flucht, versuchen zu überleben. Candid kehrt am Schluss auf ein kleines Landgut zurück, das er erworben hat, und bestellt seinen Garten, sein eigenes, kleines Paradies, das er gerade noch selbst in den Griff bekommt.

Und auch Josef Kaplan wird am Schluss seiner »Reise« zur Ruhe kommen, ebenfalls für ihm am Ziel der besten aller möglichen Welten angekommen. Er arbeitet nicht in seiner Datscha als Hobbygärtner, sondern sitzt hundertjährig in seinem Zimmer, mit einem Walkman ausgerüstet, auf dem er immer wieder ein Lied hört: seinen Lieblings-Tango: Volver – Rückkehr! Josef Kaplan ist endlich am Ziel angekommen: Back to the roots! Jean-Michel Guenassias Roman Eine Liebe in Prag erzählt ein farbenreiches Epos des 20. Jahrhunderts, grandios übersetzt von Eva Moldenhauer. Eine äußerst abwechslungsreiche und unterhaltsame Lektüre.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Jean-Michel Guenassia: Eine Liebe in Prag
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Berlin: Insel Verlag 2014
511 Seiten. 24,95 Euro

Reinschauen
| Leseprobe
| Jean-Michel Guenassia: Der Club der unverbesserlichen Optimisten in TITEL-Kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Elefantenparade

Nächster Artikel

Beerpeace! Über die bedrohte Bier-Diversität in Deutschland

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Imitiertes Leben

Roman | Deborah Levy: Heim schwimmen Heim schwimmen, untertauchen, versinken – Deborah Levys neuester Roman, der für den renommierten Man Booker Prize nominiert wurde, spielt mit beunruhigenden Metaphern rund um das Wasser. Eine französische Villa mit Swimmingpool gibt gleichermaßen Schauplatz, Bühne und Tatort ab. Von INGEBORG JAISER

Vom elitären Stammler zum Plothuber

Roman | Brigitte Kronauer: Gewäsch und Gewimmel Gewäsch und Gewimmel – der neue Roman von Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer. Eine Besprechung von PETER MOHR

Wie Hähnchen-Amok

Roman | Dorian Steinhoff: Das Licht der Flammen auf unseren Gesichtern »Kaffirlimonenblätter, Turmericwurzeln, Galgant, Koriander, Minze, süßes Thai-Basilikum und Zitronengras.« – Dorian Steinhoffs sieben Erzählungen seines gerade erschienenen Erzählbandes stellen eine ebenso bunte Gewürzmischung vor wie die des kambodschanischen Gerichtes namens Hähnchen-Amok, das in »Wasser«, der zweiten der sieben Geschichten, in einer Kokosschale serviert wird. Von VERENA MEIS

Ich war meinen Körper losgeworden

Roman | Ally Klein: Carter Carter lebt so exzessiv und selbstzerstörerisch, dass sie Menschen aus ihrem Dunstkreis unweigerlich mitreißt, in einen Strudel der Abhängigkeit und Auslöschung. Ally Kleins rätselhafter Debütroman geht an sprachliche Grenzen und verlangt dem Leser nicht nur starke Nerven ab. Von INGEBORG JAISER

Selbstfindung in Cadaqués

Roman | Milena Busquets: Auch das wird vergehen »Mein Platz auf der Welt war in deinem Blick, und der schien mir so unstrittig und beständig, dass ich mir nie die Mühe machte, herauszufinden, wie er beschaffen war«, resümiert die Ich-Erzählerin Blanca das Verhältnis zu ihrer gerade verstorbenen Mutter. Mit der Beerdigung beginnt die spanische Autorin Milena Busquets ihren Romanerstling Auch das wird vergehen, der in ihrer Heimat lange Zeit ganz vorne in den Bestsellerlisten rangierte. Von PETER MOHR