/

Grenzerfahrungen

Kulturbuch | Rüdiger Dingemann: Mitten in Deutschland

Über vierzig Jahre lang ging ein Riss durch deutsche Lande. Rüdiger Dingemann berichtet von historischen, kulturellen, landschaftlichen Entdeckungen an der ehemaligen Grenze, von einzigartigen Menschen, Schicksalen und Ereignissen ›Mitten in Deutschland‹. Von INGEBORG JAISER

Dingemann GrenzeDer 9. November 1989 veränderte die Welt. In den 25 Jahren seit dem Fall der Mauer haben sich Menschen und Beziehungen, Orte und Landschaften gewandelt. Ist zusammengewachsen, was zusammengehört?

Vom Todesstreifen zur Lebenslinie

Die fast 1400 Kilometer lange innerdeutsche Grenze verlief von der Lübecker Bucht bis zum Dreiländereck bei Hof, zerteilte Kulturlandschaften und Städte, trennte Familien und Freundschaften. Durch die ehemalige Demarkationslinie mit ihren Stacheldrahtzäunen und Sperrzonen entstand ein »Niemandsland«, das viele Gebiete gezwungenermaßen in einen jahrzehntelangen Dornröschenschlaf versetzte. Mit einem paradoxerweise positiven Nebeneffekt: gerade hier haben sich unberührte Rückzugsgebiete für viele vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten entwickelt.

Wo früher der sogenannte Kolonnenweg entlang führte, zieht sich nun das »Grüne Band« dahin, eines der erfolgreichsten Naturschutzprojekte Deutschlands und Europas. So konnte aus dem ehemaligen Todesstreifen eine Lebenslinie entstehen – oder, wie es im Grenzstreifenprojekt des Heinz Sielmann formuliert wird, »ein strukturreiches und vielfältiges Biotopmosaik«.

Nicht nur ein grünes Band

Rüdiger Dingemann ist dieser Linie ›Mitten in Deutschland‹ gefolgt, in jahrelanger Reise- und Recherchearbeit, oft zusammen mit seiner Frau Renate Lüdde. Entstanden ist ein eindrucksvoller, großformatiger Textbildband über noch wenig bekannte Gegenden und Regionen, über ungeahnte Kulturschätze und Naturschönheiten. Wer kennt schon Orte wie Pötenitz, Osterwieck und Zarrentin? Wer weiß um die Dorfrepublik Rüterberg, die just einen Tag vor dem Mauerfall ausgerufen wurde? Oder um die kulturhistorisch hochinteressanten Rundlingsdörfer im früheren Zonenrandgebiet Wendland? Immer noch beklemmend lesen sich dagegen die Berichte über das Leben im Sperrgebiet oder die menschenverachtenden Zwangsumsiedlungen (»Aktion Ungeziefer«).

Dingemann hat aber auch viele aberwitzige Skurrilitäten und bizarre Kuriosa aufgespürt, wie das Ausflugslokal »Willecke’s Lust«, wo bei Hagebutten- und Kirschwein einst ganze Busladungen und Hochzeitsgesellschaften einen Blick auf den nahen Todesstreifen werfen konnten. In dieser Tradition mag man auch die befremdliche Umwandlung eines früheren Wachturms bei Boizenberg in die jetzige Imbissbude »Checkpoint Harry« sehen.

Über allen Gipfeln ist Ruh

Zuträglicher sind da schon die literarischen Ausläufer, denen Dingemann gleich zwei Exkurse widmet: ›Dichter im Harz‹ und ›Die Grenze in der Literatur‹. Zwischen Goethes und Heines Naturgedichten und der anekdotenhaften Erwähnung der innerdeutschen Grenze im Krimi ›Das Alphabethaus‹ von Jussi Adler-Olsen kann noch viel erlesen werden.

Mit einer Fülle oft großformatiger Fotografien, zahlreichen Zeitzeugenberichten, sowie einer übersichtlichen Chronik beleuchtet ›Mitten in Deutschland‹ alle nur erdenklichen Facetten der ehemaligen Grenze. Ein gelungener Mix aus außergewöhnlichem Reiseführer, informativem Geschichtsbuch, opulentem Bildband, kulturgeschichtlichem Abriss – und zum 25. Jahrestag des Mauerfalls natürlich auch ein mahnendes Zeichen!

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Rüdiger Dingemann: Mitten in Deutschland
Entdeckungen an der ehemaligen Grenze
Hamburg: National Geographic 2014
221 Seiten. 29,99 Euro

Fotos
| K. Leidorf / R. Lüdde

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wider die Hysterisierung der Trübsalafisten

Nächster Artikel

Erinnerungen einer Unbequemen

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Eine Ahnung von Dunkelheit, ein unstillbares Heimweh

Kulturbuch | László F. Földényi: Lob der Melancholie

Wenn einer etwas zur Melancholie zu sagen hat, dann ist es der ungarische Geisteswissenschaftler László F. Földényi. In seinem neuesten Essayband versammelt er Gedanken zu melancholisch-metaphysischen Abgründen in Architektur, bildender Kunst und Film. Und überrascht dabei mit seinem Gespür für die Körperlichkeit der Melancholie, die »mehr ist als nur ein Gefühl.« Von JALEH OJAN

Auf 42,195 Kilometern in die Sackgasse

Kulturbuch | Matthias Politycki: 42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken Wer schon einmal einen Marathon gelaufen ist, weiß, welche Gefühlsachterbahnen über die geschichtsträchtige Streckenlänge von 42,195 Kilometern entstehen und welche Glückshormone im Zielbereich ausgeschüttet werden. Zugleich ist es für das Umfeld von »Marathonis« bisweilen unverständlich, warum ein solch zeitlicher Aufwand, bisweilen monotone Trainingseinheiten und das nicht endend wollende Leiden ab Kilometer 30, wo der in der Läuferszene berüchtigte »Mann mit dem Hammer« wartet, Anreize sein sollen, um einen Marathon zu absolvieren. Matthias Politycki schreibt in ›42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken‹ über

Kapitalismus, Theater und Kritik

Bühne | Kulturbuch | Joachim Fiebach: Welt – Theater – Geschichte. Eine Kulturgeschichte des Theatralen Er gilt als Gigant unter den zeitgenössischen Theaterwissenschaftlern, ein Gigant, der scheinbar spielerisch Theater, Medien, Herrschaft, Philosophie und Kultur als Ganzes prägnant, pointiert und manchmal auch provokativ kontextualisiert sowie en passant sich auch noch als der Experte für das Theater Afrikas gerierte: der Berliner Professor Joachim Fiebach. Schon in zahlreichen Monografien und Artikeln hat er sich mit den sozialen und politischen Faktoren des Theaters beschäftigt und dabei aphoristisch über die dramaturgische Inszenierung der Realität laboriert. Jetzt hat Fiebach sein wissenschaftliches Opus Magnum vorgelegt, mit dem

Schule des Sehens

Kulturbuch | Hanns-Josef Ortheil: Kunstmomente

Er zählt zu den erfolgreichsten und produktivsten Schriftstellern Deutschlands, hat bislang über 70 Bücher publiziert, unzählige (teilweise noch unveröffentlichte) Texte der unterschiedlichsten Gattungen verfasst: Romane, Reiseerzählungen, Sachbücher, Essays, Dramen, Drehbücher, Libretti und nicht zuletzt tägliche Notate und literarische Skizzen. Hanns-Josef Ortheils Schaffensdrang – oftmals durch inspirierende ›Kunstmomente‹ angeregt und beflügelt – erscheint unermesslich. Doch welche visuellen Eindrücke haben ihn geprägt? Von INGEBORG JAISER

Bücher, Bücher überall!

Kulturbuch | Nina Freudenberger: BiblioStil

Vom Glück und der Leidenschaft, sich mit Büchern zu umgeben, schwärmen Nina Freudenberger und Shade Degges im opulenten, reich illustrierten und detailverliebten Bildband BiblioStil. Am liebsten möchte man in einem der plüschigen Lesesessel versinken, in die überquellenden Bücherregale greifen und die Zeit vergessen. Von INGEBORG JAISER