Film | Tous les chats sont gris – Erstaufführung des Debüts von Savina Dellicour
In letzter Zeit ist in den Industrienationen, der sogenannten modernen Gesellschaft vermehrt die Rede davon, Kinder würden sich von ihren Eltern lossagen. Die familiären Generationen sind nicht mehr verschweißt wie noch vor einigen Jahren. Das ist auch ein Thema des Films ›Tous les chats sont gris‹, auf Deutsch ›Alle Katzen sind grau‹. Von DIDIER CALME
Die sogenannte Blutsverwandtschaft verliert zunehmend ihre Bedeutung, die des Geistes oder auch der Seele nimmt immer häufiger deren Stelle ein. Dennoch sind zunehmend mehr Menschen auf der Suche nach ihren blutsverwandtschaftlichen Wurzeln, seit etwa fünfzehn Jahren ist die Zahl derer, die Ahnenforschung betreiben, enorm angestiegen.
Auffällig ist die Suche nach Vätern. Die Suchenden dürften in der Regel diejenigen sein, die adoptiert wurden oder aus wiederholten Versuchen hervorgegangen sind, die Ehe als Institution zu leben. Auch die Patchwork-, die Flickenteppich-Familie könnte dabei eine entscheidende Rolle spielen, oftmals ist dabei die Liebe unter- , die sogenannte Vernunft übergeordnet. In der Regel sind es sehr junge Menschen, häufig diejenigen, bei denen die Pubertät erste eigenständige intellektuelle Prozesse in Gang setzen, die sich von elterlichen Vorgaben, von oftmals eingefahrenen Denkmechanismen lösen.
Die Belgierin Savina Dellicour thematisiert das mit ihrem Erstling ›Tous les chats sont gris‹, deutsch ›Alle Katzen sind grau‹. Es ist eine typisch französische Umgebung – die Handlung ist in der Wallonie angesiedelt – des Mittelstandes, die Charaktere wie auch ihre Darsteller entsprechend vorgegeben. Gezeigt wird eine wenig an- oder gar aufregende Atmosphäre gehobener, letztendlich aber biederer Bürgerlichkeit. Ein Bereich von Uccle, eines Stadtteils von Brüssel, wo die Regisseurin Dellicour aufgewachsen ist und in dem sie die Handlung ihres Films angesiedelt hat, ist geprägt von Häusern neureicher Architekturcharakteristik auf parkähnlichen Anwesen. Er: Chefarzt der Gynäkologie, sie: Immobilienmaklerin in den Anfängen, ein Symbol wohl für den versuchten Neubeginn eines Ehepaares, dessen Beziehung verflacht, wenn nicht gar am Ende ist, mit zwei Kindern, ein fünfzehnjähriges und ein acht Jahre jüngeres Mädchen.
Die Fünfzehnjährige und deren Freundin versuchen, nun, nicht gerade auszubrechen, aber sich Abwechslung vom drögen Alltag zu verschaffen. Ziel ist häufig ein Platz, auf dem etwa gleichaltrige Jungen sich in der Artistik des Skateboards ausprobieren, sich alle möglichen Mittelchen reinziehen und die beiden Freundinnen dazu ebenfalls zu animieren trachten. Doch die hören lieber ältere Töne, etwa The Cure. Einen Mann an die Fünfzig entdecken sie, der in einem nicht mehr allerneuesten BMW sitzend Musik der Siebziger hört und aus ihm heraus photographiert. Sie sprechen ihn an, bespötteln ihn als einen Pädophilen (vor etwa zwanzig Jahren befand sich Belgien diesbezüglich extrem im medialen Gerede, und das scheint hier nachzuklingen). Er versucht sich herauszureden, indem er darauf hinweist, er verfolge als beauftragter Privatdetektiv einen Mann, der seine Frau betrüge. Tatsächlich lichtet er eine der beiden jungen Frauen ab, seine Tochter Dorothy, zu der er gerne bewussten, eben väterlichen Kontakt hätte. Doch der ist ihm seitens der Mutter strengstens untersagt. Die will die Idylle nicht gestört wissen, auch oder gerade deshalb, weil sie ahnt, dass ihre Tochter die Erzeugerschaft des Familienoberhauptes anzweifelt. Doch von dem, dem Chefarztgynäkologen, hat der Teenager ohnehin keine allzu hohe Meinung,: »Manchmal«, gibt sie in einem Gespräch gelangweilt zum besten, »erzählt er ganz lustige Geschichten von Geburten.«
Die beiden Freundinnen suchen den Detektiv Paul zu Hause auf und schwindeln ihm vor, sie recherchierten für eine Schulaufgabe über interessante Berufe. Letztendlich läuft es darauf hinaus, er, der vermeintliche Vater, solle sich auf die Suche nach dem richtigen Vater von Dorothy machen. Noch einmal versucht Paul die Frau, mit der er eine Affaire hatte, aus der Dorothy hervorging, davon zu überzeugen, ihm den Kontakt mit ihr zu ermöglichen. Vehement lehnt die Mutter des Mädchens dieses Ansinnen ab. Es sei nichts als ein kurzzeitiges Vergnügen gewesen, und Dorothy habe nun mal einen Vater. Basta.
Detektiv Paul will dennoch, wohl im Vorhaben, um seine Anerkennung als Vater zu kämpfen, einen Beweis seiner Erzeugerschaft erbringen und gibt einen DNA-Test in Auftrag. Es stellt sich heraus, daß er gar nicht der Vater des Mädchens sein kann. Er ist selbst enttäuscht, teilt es Dorothy dennoch mit, die aufgrund eigener Nachforschungen in Form eines Einbruchs in seine Wohnung davon überzeugt war, in ihm ihren Vater gefunden zu haben. Bedauernd äußert sie: Schade, ihn hätte sie gerne als Vater gehabt.
Paul geht in seinen Recherchen allerdings noch einen Schritt weiter. Seine Untersuchungen ergeben, dass mehrere Männer als Väter infrage kämen, er findet gar den einen heraus. Dorothy ist maßlos enttäuscht und droht in einer Diskothek unterzugehen, abgefüllt mit Alkohol und Drogen, wie damals ihre Mutter, als sie die noch nicht war. Paul macht sich auf die Suche nach dem Mädchen, findet es schließlich, bringt es zu sich nach Hause, verständigt die Mutter, die sich im Anschluss ihrer Tochter zu erklären versucht. Die habe seinerzeit auf einer Party nicht nur mit Paul Verkehr gehabt. Der habe die in jeder Hinsicht ziemlich berauschende Fête bereits verlassen, und die dann werdende Mama hatte sich noch mit einigen anderen Männern verlustiert. Der biologische Vater, den Paul herausgefunden hatte, ist ihr völlig unbekannt, sogar dessen Namen hat sie noch nie gehört.
Die Schlusssequenz des Films: Der ursprünglich vermeintliche Papa und die ursprünglich vermeintliche Tochter fahren gemeinsam im nicht allerneuesten BMW, die Stimmung wird immer gelöster, aus dem Lächeln wird ein einträchtiges fröhliches Lachen. Ein Happy End: Nicht die Bluts-, sondern die Geistesverwandtschaft ist entscheidend, es zählt die Freundschaft.
Es handelt sich um einen dieser stilleren – von der zwischenzeitlich sehr lauten Musik abgesehen, die allerdings durchaus die Parallelen zwischen der einen wie der nächsten Generation symbolisiert –, typisch französischen, hier eben wallonischen Filme, die cineastisch zwischen den Zeilen philosophieren. Dennoch drängt sich nicht unbedingt ein Eric Rohmer auf, dessen Narrationen vielen Kinogängern allzu dialoglastig sind. Dieser Film ist von einer eigenen, ausgesprochen zeitgenössischen Art, mit der Savina Dellicour gesellschaftliche Fragen passagenweise ausgesprochen kurzweilig abhandelt, die zwar seit Langem existieren, aber erst in jüngerer Zeit verstärkt aufgeworfen wurden. Action findet keine statt, wobei es durchaus turbulent zugeht in ›Tous les chats sont gris‹, Alle Katzen sind grau spielt unterhaltsam mit Rhythmenwechseln, ist durchsetzt von feinem Humor, mit manchem Witz, der zwischendurch im Publikum fröhliche Lacher auch von jüngeren Stimmen hervorruft, möglicherweise bedingt durch die Ahnung eines Alltäglichen, das erst noch auf sie zukommen wird.
Titelangaben
Tous les chats sont gris
Regie: Savina Dellicour
Belgien 2014
Darsteller:
Manon Capelle
Anne Coesens
Dune de Braconier
Danièle Denie
Alain Eloy
Bouli Lanners
Aisleen McLafferty
Jacques Picron
Benoît Verhaert
Alexandre von Sivers
Fotos
| IFFMH