//

Nun habt euch mal nicht so!

Film | Im TV: TATORT – Ohnmacht, 11. Mai

Die ersten sieben Minuten von ›Ohnmacht‹ sollte man sich wie oft ansehen? Sieben Mal? Genau, nur diese sieben Minuten. Sieben Mal. Tödlich. Allein die kalte U-Bahnhof-Szene sehen, meine Güte, allein die teilnahmslosen Leute, so kalt, so abgewandt, so apathisch, so Leben auf Sparflamme. Sie schauen gar nicht hin, während neben ihnen einer erbärmlich zusammengeprügelt wird; ist das die Welt, in der wir leben? Gute Frage! Ballauf, der spontan empört ist, der sich einmischt, bekommt ebenfalls aufs Maul. Von WOLF SENFF

Tatort - "Ohnmacht"<br>Foto: WDR/Martin Menke
Tatort – „Ohnmacht“
Foto: WDR/Martin Menke
»Dies hier ist ein Tatort«, konstatiert Max Ballauf paar Minuten später. Niemand wird ihm widersprechen. Aber was für ein Wechselbad der Gefühle während dieser ersten Minuten! Gleich darauf im gleichfalls kalten Klinikflur der pragmatische Kontrolluntersuchungscheck, unterkühltes Ambiente, die Genesungstechnologie kalt wie Drohkulisse, Reflexe werden routinemäßig abgeprüft, Frau Doktor ist gehetzt, Frau Doktor ist im Stress – lebendig geht’s hier ebenfalls nicht zu, kein Stück, wie buchstabiert sich menschenfreundlich, wir haben’s vergessen, achjeh, wie konnte das sein. Der Kölner ›TATORT‹ zeigt deutschen Alltag im Jahre 2014, ganz großes Lob, diesmal darf man sich nichts entgehen lassen.

Abgebrüht und tiefgefroren

Über die Handlung in ›Ohnmacht‹ gibt es nicht viel zu sagen. Nach der üblen U-Bahn-Szene geht es darum, die Verantwortlichen zu ermitteln. Schnell sind drei Jugendliche verdächtig, sie sind intelligent, der Nachweis ist schwierig, es gibt verblüffende Gespräche. Der Zuschauer lernt mit allen Wassern gewaschene Neunzehnjährige kennen, ein Abitur ist der Einstieg in die Leistungsgesellschaft und gibt Verhöre, die bleiben ohne Ergebnis.

Alles besitzt den ganz erlesenen Kick und wir lernen, wie flockig der Staat ausgetrickst wird, die Jungs und das Mädel machen auf Unschuldslamm wie die Finanzwirtschaft. Ohne echtes Vorbild, dem man nacheifern kann, geht halt gar nichts, Kälte ist das Leitgefühl in diesem waghalsigen ›Ohnmacht‹.

Was ist Scham, was ist Reue

Unfassbar, wie abgebrüht und tiefgefroren das kleine ›Luder‹ Christine die Mitmenschen für dumm verkauft, angefangen bei den eigenen Eltern, wie ignorant kann man sein. Letztlich kennen wir uns selbst nicht wieder, und das ist exakt die Schnittstelle, an der beim Vater der Alkohol einfließt.

In ›Ohnmacht‹ wird das Saufen nicht einfach abgetan und die Leute werden belächelt oder ausgegrenzt, nicht einmal die drei Jugendlichen, sondern dieser ›TATORT‹ hält beharrlich die Spur und liefert für alles, man mag das nicht glauben, eine plausible Erklärung, gar nichts muss entschuldigt werden, was ist Scham, was ist Reue, ›Ohnmacht‹ hält sich voll cool im Wirklichkeitsfenster.

Von Giftspritzen und Einzelfällen

Doch er teilt auch aus. Ist mal ein ›TATORT‹, der nicht mit Handlung wegreißt wie neulich der aus Münster, sondern durch seine Figuren, die einzigartig rasant gezeichnet sind, packend, unwiderstehlich. Der Vater! Die Mutter! Die Jugendlichen! Meine Güte, das existiert real in Fleisch und Blut? Man möchte das nicht glauben. Tut richtig weh an einem Sonntagabend, wenn man doch am liebsten die Augen schließen möchte wie all die umgänglichen Leute vorhin auf dem Bahnsteig, nur nicht aufregen. Und über das zu erwartende Gerichtsurteil wollen wir mal lieber kein Wort verlieren.

Fragen über Fragen

Und? Werden wir morgen lesen, dass dieser ›TATORT‹ frauenfeindlich war? ›Giftspritzen‹ gibt’s real? Wieso überhaupt ›die‹ Giftspritze? Das ist eine diskriminierende Vokabel, mindestens, kann man bestimmt als beleidigend verklagen, und an der nächsterreichbaren Uni wird gewiss schon überlegt, wie dieses hässliche Wort geschlechtsneutral neu zu gestalten wäre.

Kannst du mal sehen. Garantiert werden wir auch lesen, dass Jugendliche nicht so sind wie in diesem ›TATORT‹. Nicht wirklich. Höchstens mal im Einzelfall. Hm. Schlimm genug und würde ja schon reichen, oder? Ach, nun habt euch mal nicht so. Ein ›TATORT‹, der unsere Synapsen strapaziert.

| WOLF SENFF

Titelangaben
TATORT ›Ohnmacht‹ (WDR)
Regie: Thomas Jauch
Ermittler: Klaus J. Behrendt, Dietmar Bär
So., 11. Mai, 20:15 Uhr

Reinschauen
Alle Sendetermine und Online-Abruf auf DasErste.de
Gregor Keuschnig zu Rüdiger Dingemann: »Tatort«-Lexikon
Rüdiger Dingemann: »Tatort«-Lexikon (eBook)

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

The Art of Depression With Sonic Boom

Nächster Artikel

Wenn’s nicht mit rechten Dingen zugeht

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Faster, Ghetto-Kid! Kill, kill!

Film | Im Kino: Attack the Block »Würde der Dritte Weltkrieg dort draußen toben, würde man keinen Unterschied merken.« Tatsächlich hat der Dritte Weltkrieg in der heruntergekommenen Hochhaussiedlung, die das labyrinthische Herz von Attack the Block ist, schon begonnen. Ein Zweifrontenkrieg zwischen engagierter Bürgerklasse und krimineller Ghetto-Jugend, zwischen Erdbevölkerung und Aliens: Menschen gegen »beschissene Monster«. So nennt Sam (Jodie Whittaker) die Gang um den jugendlichen Moses (John Boyega), von der die Krankenschwester auf dem Heimweg von der Überschicht ausgeraubt wird. Was die irdischen und außerirdischen Invasoren der innerstädtischen Arena verdienen, ist das Dogma von Joe Cornishs aggressiver Mischung aus Kampfspektakel

Einer so, der andere so

Film | Im Kino: Jane got a gun / The Hateful 8 Auferstehung? Nein, nicht wirklich. Es kommt nun einmal vor, dass müde, blasse, stumpfe Schatten, die irgendwo scheinbar nutzlos herumliegen, unversehens mit neuem Leben erfüllt werden, und der Wildwestfilm trabt plötzlich wieder quicklebendig über die Leinwand, diesmal in zwei grundverschiedenen Ausführungen, die dieser Tage in die deutschen Kinos gelangen. Von WOLF SENFF

»Wer ins Wespennest sticht, wird gestochen«

Film | Im TV: TATORT 902 Abgründe (ORF), 2. März Die beiden dürfen das. »Wir arbeiten in einem unfassbaren Saustall.« Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) klären auf. Abgründe bildet Strukturen eines von Betrug, Lügen und Fälschungen durchsetzten Polizeiapparats ab, von Schmiergeldzahlungen und Verflechtungen mit lokalen Wohnungsbauunternehmen, der Film Noir erlebt seit einiger Zeit sein zaghaftes Revival im TATORT. Von WOLF SENFF

Schluss mit Reha, Frau Odenthal!

Film | Im TV: ›TATORT‹ Die Sonne stirbt wie ein Tier (SWR) Zum Krimi diesmal kein Wort, nein, zuallererst ist das ein Film, der mit Gewohnheiten bricht. Lena Odenthal, völlig verändert, ist auf Reha, sie häutet sich. Nein, sympathisch. Doch nicht allein Odenthal und Kopper (der telefoniert mit Maria in Italien und wie frech ist denn das, dass sie uns das nicht übersetzen), das Drehbuch wirft massiv schillerndes Personal in die Handlung. Von WOLF SENFF

Erregungen, Kampagnen, Polemiken

Stefan Volk: Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute Durch Skandalfilme von Stefan Volk fühlt sich MANFRED WIENINGER gut informiert und an die Kindheit seiner Mutter erinnert.