Fremde Welt

Jugendbuch | Christoph Scheuring: Echt

Große Bahnhöfe sind reizvoll. Bunt, lebendig, mit einer ganz eigenen Stimmung des unablässigen Kommens und Gehens. Zugleich sind sie altbekannte, geradezu vertraute Orte. Bis man genauer hinsieht. Dann zeigt sich, dass das Vertraute ein Stück weit Fassade ist und dahinter eine fremde Welt liegt. Der sechzehnjährige Albert stolpert unversehens dort hinein und damit in eine Geschichte auf Leben und Tod. Von MAGALI HEISSLER

echtAlberts Lieblingsbeschäftigung ist Fotografieren. Er sucht das Wahre, Echte im Menschen und glaubt, eben das zu finden, wenn Menschen sich voneinander verabschieden. Also verbringt er jede freie Minute am Hamburger Hauptbahnhof und fotografiert Abschiede. Dort ist er unter Menschen und doch auf Distanz, das gefällt ihm. Dass andere sein Hobby anders interpretieren, auf den Gedanken kommt er nicht. Deswegen fällt er auch aus allen Wolken, als er verhaftet wird. Nicht nur er hat Menschen fotografiert, die Kameras anderer haben ihrerseits ihn aufgenommen. Das Bild, das sie von ihm gemacht haben, ist eine Lüge. Das weiß aber nur Albert. Für die Polizei zeigen die Kamerabilder die Wahrheit.

Das ist nur der erste Schritt Alberts weg von den sicheren Überzeugungen. Als Nächstes lernt er Kati kennen, vielleicht ein wenig älter als er, aber ganz sicher aus einer anderen Welt. Kati interessiert sich für seine Fotos, sehr. Albert verliebt sich Hals über Kopf, Distanz ade, noch eher er auch nur angefangen hat, zu denken. An Katis Fersen geheftet marschiert er stracks in die Welt der Straßenkinder. Und das erweist sich bald als das geringste der Probleme, mit dem Albert zurande kommen muss.

Der trügerische Blick

Scheuring hat für seinen Roman einen besonderen Schauplatz ausgewählt. Auch wenn es Ortswechsel gibt, so spielt doch ein Gutteil der Handlung am Hamburger Hauptbahnhof. Was zunächst die üblichen Ingredienzien sind, Gleise, Bahnsteige, Rolltreppen, Aus – und Eingänge, Ladengeschäfte, Vorplatz entwickelt sich, sobald sich Alberts Blick erweitert, zu einem Land voller geheimnisvoller Pfade, überraschender Biegungen, Auf – und Abstiege, uneinsehbare Winkel, Schlupflöcher. Absperrungen, Tore, selbst Wände der einen Welt haben ihre Bedeutung geändert, der Weg führt weiter über sie – durch sie hindurch. Grenzüberschreitungen sind normal, im Wortsinn und später auch im übertragenen Sinn.

Für Albert und mit ihm für die Leserin verändert sich das Bahnhofsgebäude und dann auch jeder andere Ort, an den Albert mit seinen neuen Bekannten gelangt. Was man sieht, ist nicht alles, was tatsächlich da ist. Das Bild ist trügerisch, der Blick darauf auch. Was wahr ist, ist nicht leicht festzustellen. Erzählt wird die Geschichte von Albert. Wie viele eher zurückhaltende Menschen neigt er zum Plappern, so einiges gerät zu wortreich. Immerhin beherrscht sich der Autor weitgehend, den Slang spezifischer Jugendgruppen nachzuahmen. Dialoge und Beschreibungen klingen also nicht allzu künstlich und angestaubt.

Täuschungsmanöver

Was für Orte gilt, gilt auch für Menschen. Vorgefasste Meinungen bringen eine nicht weiter, nicht zu dem jedenfalls, was die Figuren des Buchs eigentlich ausmacht. Ihr Aussehen, ihre Worte, ihr Handeln werden beim näheren Hinsehen widersprüchlich, schwer erklärlich, bleiben zuweilen rätselhaft. Viel davon ist Täuschungsmanöver. Sich verstellen, so tun, als ob, schauspielern, ist wichtig – unter den Straßenkindern ebenso wie in Alberts eher behüteter Welt. Das gilt im Guten wie im Bösen. Verstellung ist Mittel zum Zweck, gleich, ob der Zweck Selbstschutz, geplanter Trickdiebstahl oder Ausbeutung anderer ist. Albert muss seine Distanz aufgeben, um hinter das Bild zu kommen, und sich einlassen. Dabei geht er mitunter zu weit.

Der Autor allerdings auch. Sobald es um seine Figuren geht, färbt sich die interessante Grundfrage des Buches in wachsendem Maß rosarot. Die Figuren werden nahezu comicartig überlebensgroß, werden Typen, sie verlieren an Tiefe. Albert und Kati werden die unsterblich Liebenden, die dazugehörige Gruppe der Jugendlichen predigt Verhaltensregeln nach einer Ethik, die vornehmlich der kleinbürgerlichen Sozialromantik entstammt inklusive einem ordentlichen Schuss Robin-Hood-Mythos. Die Erwachsenen, gleich ob positiv oder negativ, sind bloße Karikaturen. Das liest sich witzig, lässt das Thema aber mehr und mehr zerfasern und am Ende ins Leere laufen. Noch ein Täuschungsmanöver also.

Insgesamt ist ›Echt‹ eher ein herkömmlicher Liebes-Abenteuerroman, der allerdings mit besonderen Blicken auf zeitgenössische Stadtlandschaften überrascht. Überraschend ist auch das Cover, die Frage nach dem, was tatsächlich dahintersteckt, wurde hier auf originelle Weise übersetzt.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Christoph Scheuring: Echt
Bamberg: Magellan 2014
255 Seiten, 14,95 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Weder Sozialkunde noch sonst welche Brille

Nächster Artikel

Annäherungen an die Liebe

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Gleiches Recht auf Liebe

Jugendbuch | Sonwabiso Ngcowa: Nanas Liebe Homosexualität in Ländern Afrikas ist ein recht neues Thema hierzulande. Vor Ort wird schon lange darüber diskutiert. Laut der Verfassung Südafrikas von 1997 etwa darf dort niemand aufgrund der eigenen sexuellen Orientierung diskriminiert werden. Bis diese Forderung Alltag geworden ist, muss aber noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Der junge Autor Sonwabiso Ngcowa erzählt in seinem Debütroman ›Nanas Liebe‹, welchen Problemen junge lesbische Frauen ausgesetzt sind und fordert gleiches Recht auf Liebe für alle. Von MAGALI HEISSLER

»Leute, das ist Leben!«

Jugendbuch | Alexa Hennig von Lange: Erste Liebe

Alexa Hennig von Lange lässt in »Erste Liebe« die schwierige Zeit des Erwachsenwerdens Revue passieren und kreiert dabei eine ausgesprochen authentische Protagonistin. Von BARBARA WEGMANN

Schonungslos

Jugendbuch | Ingeborg Kringeland Hald: Vielleicht dürfen wir bleiben Krieg, Flüchtlinge, Asyl, Abschiebung, auch Kinder kennen diese Begriffe schon. Ob und wie man mit ihnen darüber spricht, wie es zu den Zuständen kommt, die diese Begriffe bedeuten, davon hört man weniger. Die norwegische Autorin Ingeborg Kringeland Hald hat sich für den direkten Weg entschieden, und erzählt in ihrem Debütroman für Kinder ›Vielleicht dürfen wir bleiben‹ schonungslos vom Grauen. Von MAGALI HEISSLER

Fast wie die Möwe Jonathan

Jugendbuch | Jasminka Petrović: Der Sommer, als ich fliegen lernte

Die Sommerferien drohen grässlich öde zu werden: die 13jährige Sofija begleitete ihre Oma zu einem Besuch bei ihrer Schwester. Und zunächst wird es genau das, was Sofija befürchtet hat: ein Albtraum. Von ANDREA WANNER

Der Traum von der Golden Gate Bridge

Jugendbuch | Ying Chang Compestine: Revolution ist keine Dinnerparty Die Kulturrevolution in China endetete offiziell im Jahr 1969. Die Säuberungsaktionen gegen Andersdenkende, der Tod von Hunderttausenden, physische und psychische Misshandlungen währten aber bis zum Tod Maos. Was das tatsächlich für eine Familie bedeutet, erfährt man aus der Sicht der neunjährigen Ling. Von ANDREA WANNER