Die Deckung aufgeben

Jugenbuch | Rusalka Reh: back to blue

Deckung ist Schutz, das lernen Kinder schnell, wenn ihre engste Umgebung gefährlich ist. Sind sie Teenager, ist ihnen das Deckung suchen in Fleisch und Blut übergegangen, mehr noch, sie finden es normal. Auf dem Weg zum Erwachsenwerden ist Wegducken aber schädlich, denn es bedeutet, dass man auf das verzichtet, was man sich sehnlich wünscht. Das Schreiben z.B. Oder die große Liebe. Welche bösen Konflikte daraus entstehen können, erzählt Rusalka Reh in back to blue. Von MAGALI HEISSLER

Back to blueKid findet schon ihren Namen nicht schön. Offen sagen würde sie das nie, ihre Mutter hat ihn ausgesucht. Und Mutter ist gefährlich. Sie wollte nie ein Kind, eins wie Kid schon gar nicht. Das hat sie ihr in sechzehn Jahren überdeutlich klargemacht mit körperlichen und verbalen Übergriffen. Kids Vater interessiert sich nur für die Mutter. Seine Tochter läuft so nebenher.
Kid hat gelernt zu verbergen, was sie denkt, was sie tut. Die Launen ihrer Mutter nimmt sie als naturgegeben hin. Schließlich geht es ihr gut. Sie besucht die höhere Schule, bekommt Essen und Kleider. Allerdings keine blauen, ihre Mutter mag Blau nicht.

Als Kid Maxim kennenlernt, fängt sie an, zwei Leben zu leben. Das eine ist das Leben der Liebe und des Schreibens, das sie glücklich macht. Das andere ist eben das Zuhause.
Dann findet ihre Mutter heraus, dass Kid einen Freund hat. Und das passt ihr gar nicht. Für Kid stellt sich die Frage, ob sie weiter in ihrer Deckung bleiben soll oder um Maxim kämpfen. Schwierig für eine, die immer Deckung gesucht hat.

Was ist normal?

Rehs Geschichte, die sie Kid selbst erzählen lässt, beunruhigt von Anfang an. Es liegt an der Art, wie Kid erzählt. Vorgeblich offen spricht sie über ihre Gefühle, berichtet, benennt Probleme. Sie ist erfüllt von ihrer Liebe zu Maxim, dessen Mutter eine Bar führt, in der er mitarbeiten muss, obwohl er noch nicht volljährig ist. Diese Liebe ist wie ein neues Land, das Kid entdeckt, ein weißer Fleck auf ihrer inneren Landkarte, den sie nach und nach mit Farben füllt. Reh findet berückende Szenen, in denen sie die alte Geschichte erzählt, als wäre sie völlig neu.
Der Alltag ist weniger wichtig für Kid, die Schule macht kaum Schwierigkeiten, Freundinnen hat sie nur eine, mit der sie aber nicht sehr vertraut ist.
Zugleich ist Kid vorsichtig bei dem, was sie sagt. Sie nimmt sich zurück, scheut vor Urteilen, davor, zu erkennen, was ihr von ihren Eltern tatsächlich widerfährt, vor den Konsequenzen, die sie deswegen ziehen müsste. Sie nimmt hin, was geschieht, findet es normal, weil es immer so war. Verdrängt, bleibt in Deckung.

Was sie schützt, neben der neuen Liebe, sind ihre Gedichte. Dass auch Maxim schreibt, erhöht das Glück nur. Schreiben will sie zu ihrem Beruf machen, sie weiß, dass es ihr Lebensinhalt ist. Wie sie das verwirklichen soll, weiß sie nicht. Dass ihr derzeitiges Leben nicht normal ist, möchte sie sich nicht eingestehen. Sie hat Angst allein vor der Frage, ob ihr Leben eigentlich normal ist. Als ihre Eltern ihr den Umgang mit Maxim verbieten, fühlt sie sich in der Falle gefangen, ohne sich befreien zu können. Sie ist es nicht gewöhnt, selbstständig zu handeln.

Paradies statt Roman

Kids Geschichte sind ihre Tagebucheinträge, kurz, mit Teenagerjargon durchsetzt, nicht immer präzis, von Augenblicksstimmungen abhängig, man hört sie geradezu sprechen. Ihre Gedichte sind anders, in ihnen bemüht sie sich um Präzision, darum, ihren Gefühlen genau Ausdruck zu verleihen, um die Wahrhaftigkeit, die ihr im Alltag fehlt. In den Gedichten und später in den Textschnipseln aus Zeitungen, die sie ausschneidet und neu zusammensetzt, ist sie selbstsicher genug, um ihrer Unsicherheit Ausdruck zu verleihen.

Im Alltag führt ihre Unsicherheit, die Unerfahrenheit einer Sechzehnjährigen zu Problemen. Eine dumme Bemerkung, nur gemacht, um ihrer lästig gewordenen Freundin den Mund zu stopfen, bringt die Bar von Maxims Mutter in den Ruf, ein Umschlagplatz für Drogen zu sein. Kids Gewohnheit sich zu ducken, hat zur Folge, dass sie in ein Netz von Ausflüchten und Lügen gerät, das ihren Eltern Handhabe gibt, sie von Maxim zu trennen. Das alles ist sehr überzeugend geschildert.

Weniger überzeugend ist die Lösung, die Reh im zweiten Teil des Romans anbietet. Er ist gut erzählt, aber das, was geschieht, ist inkonsequent im Verhältnis zu den Erfordernissen der eigentlichen Fragestellung. Eine klassische dea ex machina taucht auf und dazu helfende Engel in Gestalt liebenswürdiger und liebenswerter Bekannter. Kid wird kurzerhand ins Paradies entführt, in ein dementsprechend dargestelltes Madeira.

Beschreibung von Orten und Menschen, die deutlich die Autorin begeistert haben, ersetzen ab hier das, was Roman hätte werden müssen. Eine einzige, ausgezeichnete Szene auf Madeira bildet dabei die Ausnahme. So ist etwas, das Zeug zu einem besonderen Jugendroman gehabt hätte, einfach ein besserer Jugendroman geworden, dessen harmonisches Ende man erträgt, weil es nicht zuckrig geraten ist. Dazu ist die Autorin dann doch zu gut.

Perfekt ist das Cover von Christian Keller, das auf eine Schlüsselszene der Handlung verweist, die Bedeutung des raffinierten Titels betont und zugleich Kid, die Protagonistin, in ihrem Kern widerspiegelt.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Rusalka Reh: back to blue
Bamberg: Magellan 2015
208 Seiten, 14,95 Euro
Jugendroman ab 15 Jahren

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