Verluste

Jugendbuch | Steve Tasane: Junge ohne Namen

Die »Flüchtlingsfrage« beschäftigt die Menschen in Europa. Sie beschäftigt sie unter humanitären Aspekten und sie beschäftigt sie, weil viele Europa nach wie vor für bedroht halten. Was es heißt, 10 Jahre alt zu sein, alleine und auf der Flucht, erzählt Steve Tasane. Von ANDREA WANNER

Junge ohne NamenEs gibt vielleicht Flucht- und Flüchtlingsgeschichten für Kinder. Sie sind oft bedrückend, oft aber auch durchaus spannend. Sie sind selten das, was einen in diesem Jugendbuch erwartet. Stillstand. Eine Bestandsaufnahme. Ein Leben in einem Flüchtlingslager, konsequent aus den Augen eines Zehnjährigen geschildert.

Das Lager ist ein trostloser Ort, schlammig, matschig, braun. Ohne Hoffnung, ohne Perspektive. Hunger ist ein ständiger Begleiter. Und dann beginnt ein Junge seine Erzählung ausgerechnet an einem Tag, von dem er behauptet, er sei sein zehnter Geburtstag. Geburtstage wecken Erwartungen. Und so will auch I einen schönen Tag.

»I« ist nicht sein wirklicher Name. Namen gibt es nur, wenn man sie beweisen kann. Und beweisen kann man sie nur, wenn man Papiere hat. Einen Ausweis. Ein »Lebensbuch«.

Ein Weiter, ein Fortkommen von diesem schrecklichen Ort, gibt es nur, wenn sich die Identität zweifelsfrei feststellen lässt. Eine eigene Geschichte hat nur der, der sie beweisen kann. »I« hat keine. Er ist allein, hat Eltern und Geschwister verloren, ist als »unbegleiteter Minderjähriger« mutterseelenallein.

So sehen das die für ihn Zuständigen, die alle diese Kinder der Einfachheit halber mit einem Buchstaben bezeichnen. I sieht es anders. Er hat Freunde, andere Kinder, die ihn »begleiten«. Die, wir er, elternlos überleben müssen und wollen. E und ihr kleiner Bruder E, die starke V. Und schließlich stößt noch ein Dreijähriger, O, zu der Gruppe.

Geburtstag also. I ergattert Apfelstrünke aus dem Müll: ein Festessen. Und er hat sich zur Feier des Tages ein Spiel ausgedacht mit Plastikfiguren, die er gefunden hat. Etwas zu essen, ein Dach über dem Kopf. Nein, kein Zuhause, aber immerhin eine primitive Rückzugsmöglichkeit für die Nacht. Gefährten, mit denen man das Schicksal teilt. Besser, als alleine zu sein.

Tasane erzählt eine Geschichte, die nicht seine ist. Er ist der Sohn eines Flüchtlings, aber er hat anderes erlebt. Er erzählt, wie es ist, wenn man nicht dazugehört. Seine Sprache ist knapp, eindringlich. Er verzichtet auf Effekte, die die Situation im Lager dramatischer machen könnten. Er nimmt den Kindern ihre Namen und vielleicht ist das einzig Störende an der Geschichte das unter- und hintergründige Spiel mit diesen Buchstaben, die die Namen ersetzen und Anagramme bilden können: LIVE, LOVE, EVIL… Das braucht die Geschichte nicht.

Es sind die kleinen, ergreifenden Momente, wenn I beispielsweise für die Plastikmännchen aus Blättern »Lebensbücher« bastelt. Wenn er die Plastikfiguren in die Lieblingsfarben seiner Freunde taucht. Wenn der das rotzig als Lieblingsfarbe gewählte Braun von V durch Gold ersetzt. Momente, in denen das Kind, das keines sein darf, doch wieder eines wird.

Ein ergreifendes Buch, das man lesen sollte.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Steve Tasane: Junge ohne Namen
(Child I, 2018 Übersetzung: Henning Ahrens)
Frankfurt: Fischer 2019
142 Seiten, 16 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kalte Sophie

Nächster Artikel

Eine Wunderwaffe

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Verschwommenes

Jugendbuch | Anne-Laure Bondoux: Von Schatten und Licht Märchen haben sich Menschen von jeher erzählt. Im Lauf der Jahrtausende änderte sich ihre Bedeutung, manchmal waren sie wichtig, manchmal weniger, sie wurden gefördert oder verteufelt. Da sind sie immer noch und in letzter Zeit erfreulicherweise wieder häufiger. Bloß sollte nicht übersehen werden, dass Märchen, gleich, wie fantastisch sie daherkommen, im Kern eng an die jeweilige Lebensrealität ihres Publikums gebunden sind. Bondoux hat das ihrem neuesten Roman, einem Märchen, nicht beachtet und präsentiert Verschwommenes. Von MAGALI HEISSLER

Romantisch, plüschig, gothic!

Jugendbuch | Lucy Strange: Der Gesang der Nachtigall Eine warme Decke, das Sofa und ein Buch voll Spannung, ordentlich Grusel und großen Gefühlen, etwas Schöneres kann man sich für die ersten kühl-grauen Herbsttage kaum wünschen. Lucy Strange liefert genau das. Leseglück pur, also, nicht nur für die Jüngeren. Von MAGALI HEIẞLER

Der Schmerz der Vergangenheit

Jugendbuch | Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band Eine böse und belastende politische Vergangenheit aufzuarbeiten ist im letzten halben Jahrhundert geradezu ein deutsches Monopol geworden, auch im Jugendbuch. Darüber vergisst man leicht, dass es andernorts ebenfalls Autorinnen und Autoren gibt, die sich mit ähnlichen Problemen ihrer Heimatländer auseinandersetzen. Wie schmerzlich und weit die Vergangenheit in die Zukunft hineinragen kann, schildert die Argentinierin Inés Garland in ihrem ebenso berührenden wie bedrückenden Jugendroman, Wie ein unsichtbares Band. Von MAGALI HEISSLER

Daumen drücken für Alan Cole

Jugendbuch | Eric Bell: Dieses Leben gehört Alan Cole Geschwister können eine wunderbare Unterstützung im gemeinsamen Leben sein – oder einem das Leben im wahrsten Sinne des Wortes zur Hölle machen. Der Bruder von Alan Cole versteht Letzteres perfekt. ANDREA WANNER