Jugendbuch | Karin Bruder: Panama
Für die einen ist die Teenagerzeit eine Zeit voller Verwirrung, aus der die Betroffenen aber zuletzt neu orientiert ins Leben aufbrechen. Für die anderen ist sie der Aufbruch aus einer sicheren Kinderzeit ins Leben, das sich zwar als komplex erweist, aber zuletzt Halt bietet. Karin Bruder gibt sich in ihrem jüngsten Roman nicht mit vorgeblichen Sicherheiten zufrieden. Im Gegenteil entlarvt sie diese als falsch. Und das Teenagerdasein als besondere Zone gleich auch. Von MAGALI HEISSLER
Liana kann mit der Welt zufrieden sein. Noch nicht achtzehn hat sie das Abitur hinter sich, das Studium geplant, einen festen Freund und die Anerkennung ihres Großvaters, den sie anbetet. Liana würde dem »zufrieden sein« nur bedingt zustimmen. Ihre Familienverhältnisse sind verzwickt und von Trauer geprägt. Ihre Mutter kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, ihr geliebter älterer (Halb)Bruder wurde ermordet und sein Kind ist seit Jahren verschwunden. Auf Irritationen hat Liana immer mit Strukturierung reagiert, sie plant, um sich sicher fühlen zu können.
Das Planen aber ist die Domäne des Großvaters, das merkt sie, als er sie aus heiterem Himmel nach Panama City schickt, um dort ihren kleinen Neffen abzuholen, der überraschend wieder aufgetaucht ist. Alles ganz einfach, verspricht der Großvater. Ihr eigenes Auto zum achtzehnten Geburtstag verspricht er gleich auch.
Obwohl Liana Panama aus Kindertagen kennt, trifft die mittelamerikanische Welt sie unerwartet. Alles Geplante scheitert, das Kind weigert sich zu sprechen, die Ausreise verzögert sich. Der Großvater drängt, Liana muss handeln. Als sie endlich handelt, tut sie es gegen die Erwartungen, auch gegen ihre eigenen. Ohne zu wissen, wohin ihr Weg führt, tastet sie sich in ihre Familiengeschichte, die auf einmal voller Rätsel steckt. Doch auch die Gegenwart fordert ihre Aufmerksamkeit. Sie muss sich um ein Kind kümmern und ein Mann möchte einen Platz in ihrem Leben. Aber in welchem? Liana muss sich sich selbst stellen.
Dschungelgewirr
Bruder macht es der Leserin nicht leicht. Was sie fordert, ist Vertrauen in die Fähigkeit der Autorin und dafür, sich ohne Vorbehalt einzulassen auf das, was geboten wird. Damit befindet man sich beim Lesen in der gleichen Situation wie die sehr junge Hauptfigur. Liana hat viel Stärke, aber sie muss sie erst entdecken. Der Aufenthalt in Panama bietet ihr diese Chance, doch wer mitten im Wald ausgesetzt wird, sieht zunächst nur Bäume und Gestrüpp. Folgerichtig verirrt sich die Heldin. Gewohnt, geführt zu werden, lässt sie sich hängen. Prompt herrscht der Dschungel.
Bruder findet treffende Metaphern, überzeugende Bilder, vor allem aber einen straff geflochtenen Handlungsstrang, um ihr eigentliches Thema zu illustrieren. Wie Liana aber sieht die Leserin zunächst nur einzelne Fäden, die sich zudem immer aufs Neue zu verheddern scheinen. Die Heldin muss alles verlieren, damit sie neu anfangen kann. Ohne die alten Sicherheiten macht Liana Entdeckungen, mit denen sie nicht gerechnet hat.
Das Ausgesetztsein in einer Wildnis, zuerst eine gefährliche Stadtlandschaft, dann das keineswegs idyllische platte Land, bringt sie zur Selbsterkenntnis. Diese ist alles andere als beruhigend. Liana sieht Abhängigkeiten hinter der kuschligen Sicherheit, Schwäche, die sich als Stärke nur maskiert hat, aber auch die Kehrseiten. Wenn Starke im Kern schwach sind, können vorgeblich Schwache die Starken sein. Abhängigkeiten kann man beenden. Liebe ist viel häufiger eine Fessel als eine Sicherheitsleine. Die Autorin schreckt vor nichts zurück, dementsprechend erschütternd sind die Einsichten, die die Leserin mitnimmt. Dazu gibt es höchst elegant, aber trotzdem herb gesetzte Fausthiebe zum Umweltschutz, den Lebensbedingungen in mittelamerikanischen Ländern, illegaler Adoption und überhaupt den Folgen aggressiver Geldwirtschaft.
Vom Individuum heute
Bruders Botschaft gilt der Entwicklung des Individuums im Rahmen sozialer Beziehungen – und zwar nach so vielen Seiten, wie sich im Lauf des Lebens eben ergeben. Es geht um Familie, um Verwandtschaft, Freundschaft, Wahlverwandtschaft. Was trägt? Was hält? Welche Bedingungen schaffen Beziehungen, sind nur einige der Fragen, die aufgeworfen werden.
Liana lässt sie neue Rollen übernehmen, die einer Mutter, z.B., einer Unabhängigen, die auf alles pfeift, der Detektivin, Entscheiderin, der Geliebten, dem braven familienorientierten Mädchen, dem Opfer eines unnachsichtigen Tyrannen.
Das Leben ist vielfältig, zeigt die Autorin, vorgegebene Muster tragen nur ein paar Schritte weit, dann droht die Selbstaufgabe. Es ist keine pubertätsbedingte emotionale Unordnung in Liana, die sie zögern lässt, sich etwa auf Ruud einzulassen, den großen, starken Mann, der auftaucht, wie ein fleischgewordenes Traumbild zusammengesetzt aus allen existierenden Ritterklischees. Im Gegenteil stellt sich hier eine Frau die Grundfrage, wie ihr Leben aussehen soll. Soll sie selbstständig werden oder ihre Schutzhüttchen bauen, in die sie flüchten kann, selbst wenn es nur nieselt? Dass die Heldin sehr jung ist, bedeutet einzig, dass sie nur auf wenig eigene Erfahrung zurückgreifen kann bei der Entscheidung. Ist das bei Erwachsenen so anders? Gleichen sich je zwei Krisen? Muss man nicht jedes Mal, wenn nicht unbedingt bei null, so doch bei eins oder höchstens zwei anfangen? Hier geht es nicht um handelsübliche Teenagerprobleme.
Nicht versöhnlich
Wenig angenehm für Leserinnen, die Versöhnliches suchen, ist Bruders im Ton gelassen, aber in den Exemplifizierungen scharf gefasste Diskussion über die Bedeutung von Familien. Über Fürsorge und Gutmeinen, über Manipulation und Tyrannei. Sie erzählt Schreckliches, immer gepaart mit Gutem. Was zählt am Ende? »Das Glück!«, sagt man so leicht. Aber wessen Glück? Bruder lässt nichts weg in dieser Diskussion, man muss sich beim Lesen auf einen langen Weg gefasst machen. Ein Ende hat er übrigens nicht. Der letzte Schritt ist immer nur der letzte vor dem nächsten. Und ob der Weg der richtige ist, ist nie mit letzter Sicherheit zu sagen. Ihn zu gehen aber ist die Aufgabe des modernen Individuums. Selbstbewusst, mit Anstand. Der wiederum muss erkämpft werden.
Derartige Anregungen sind selten in Romanen heute. ›Panama‹ ist deswegen auch weit mehr als ein Buch nur für Teenager. Es ist ein zeitgenössischer Roman. Solange Verlage unverdrossen solche herausfordernden, aufregenden, raffinierten, facettenreichen Bücher drucken, ist die Welt noch nicht verloren.
Titelangaben
Karin Bruder: Panama
München: dtv 2015
375 Seiten. 15,95 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
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