Keine schöne Geschichte

Jugendbuch | Margo Lanagan: Ligas Welt

Das Märchen von Schneeweißchen und Rosenrot gehört zu den bekanntesten aus der Sammlung von Jakob und Wilhelm Grimm. Was gibt es Freundlicheres als die beiden Schwestern, die sich innig lieben, wilde Tiere zähmen, auch zu bösen Zwergen gut sind? Am Ende bekommen sie verdientermaßen ihre Prinzen. Margo Lanagan hat für ›Ligas Welt‹ das Innerste des Märchens nach außen gekehrt und erzählt keine schöne Geschichte. Von MAGALI HEISSLER

Margo-Lanagan-Ligas-WeltLiga wird seit dem Tod ihrer Mutter von ihrem Vater missbraucht. Zwei Schwangerschaften konnte ihr Vater mit Gift abbrechen, die dritte nicht mehr, weil er bei einem Unfall ums Leben kommt. Liga, ca. vierzehn, versucht sich mit ihrer kleinen Tochter allein durchzuschlagen, als sie erneut Opfer sexueller Gewalt wird. Der Schock ist zu groß, aber ein magisches Wesen greift ein, ehe sie sich und ihr Kind töten kann. Liga wird in eine andere Welt versetzt, ihre Wunschwelt. Diese ist ihrer eigenen ähnlich, nur alles Schlechte ist daraus verschwunden.

In ihrer Wunschwelt bringt sie eine zweite Tochter zur Welt. Die beiden Kinder wachsen in Harmonie mit Natur und Menschen auf, in einem Häuschen, an dessen Ecken zwei Rosenbüsche wachsen, gesprossen aus einem weißen und einem roten Edelstein, die das Zauberwesen Liga geschenkt hat.

In der zurückgelassenen, der realen Welt, kommt der Tag eines ortsüblichen Fruchtbarkeitsrituals. Junge Männer verkleiden sich als Bären und jagen Mädchen und jungen Frauen durch das Städtchen, die sich bei dieser Gelegenheit gern jagen und auch berühren lassen. In all der Aufregung und im Tumult aufgepeitschter Gefühle gerät einer der jungen Männer in Ligas Welt – als echter Bär. Ligas Töchter finden ihn, rasch ist er gezähmt und wird Teil ihres Haushalts.
Irritation dagegen bringt ein kleiner Mann, der, mit einer Hexe aus der realen Welt verbündet, immer wieder in Ligas Welt eindringt, weil dort alles, was er berührt, sich in Gold und Edelsteine verwandelt, die er zurück in die reale Welt nehmen kann. Da die Hexe den Zauber der Wunschwelten nicht richtig beherrscht, gelingt im Lauf der Zeit auch anderen vermeintlichen Bären der Übergang. Das macht vor allem Urdda, die jüngere und lebhaftere von Ligas Töchtern neugierig. Tatsächlich findet sie den Weg in die andere Welt. Das stellt sie vor beträchtliche Probleme, aber auch die Bärenmänner, Liga, Urddas Schwester Branza und die Hexe müssen sich mit ihnen auseinandersetzen. Ob es eine Lösung gibt, ist fraglich.

Volle Wucht

Wer die ersten siebzig Seiten dieses Romans überstanden hat, kann aufatmen. Das hat man als Leserin auch nötig. Zotige Abenteuer und entsprechende Dialoge im Prolog sind nur der Auftakt für eine düstere, blutige Handlung, in der es um sexuelle Gewalt geht. Lanagan erspart der Leserin nichts, selbst wenn sie keine detaillierte Pornografie liefert. Was geschieht, wie Täter und die Mitwisserinnen mit Liga umgehen, ist widerlich und wird genauso geschildert. Es trifft mit voller Wucht. Etwas deutlicher wird die Autorin später mit einer recht grenzwertigen Szene zwischen Ligas älteren Tochter und einem Bären oder beim magischen Racheakt an einer Männergruppe.

Erzählt wird die Geschichte von mehreren Stimmen aus unterschiedlichen Perspektiven. Ligas ist dabei interessanterweise die distanzierteste. Auf den ersten Blick handelt der Roman vom Verletztwerden und Heilen. Tatsächlich jedoch ist Sexualität das Thema und auch gleich das Problem.
Sexualität, gleich ob es um das Erwachen der Gefühle, um Begehren, um Körperlichkeit an sich geht, wird mit einer Ausnahme zu Ungunsten der Frauen dargestellt. Sie ist mit Machtausübung verbunden, mit Männermacht. Frauen sind Zielscheibe, Opfer. Es liegt allein an den männlichen Figuren, ob sie Gewalt ausüben wollen oder ›edel‹ sind. Ein Regelwerk, Gesetze z.B. das Gewalt einschränkt, scheint es nicht zu geben. Den Wunsch nach Veränderung auch nicht, verwunderlich, dass in der ›wahren‹ Welt überhaupt schon das Rad erfunden wurde.

Seltsam widersprüchlich

Weibliches Begehren wird abgesehen von der oben erwähnten Ausnahme negativ konnotiert und bestraft, in einem für das Verständnis der Handlung zentralen Fall mit dem Tod. Frauen haben sich an bestimmte Verhaltensweisen zu halten, sonst folgt die Strafe auf dem Fuß. Urdda, der eigentlich die Rolle der Abenteurerin zugewiesen wird, beherzigt das fast umgehend, kaum dass sie in der wahren Welt gelandet ist, und predigt es auch ihrer Schwester, die später zurückkommt.
Den Anstand, der ihnen aufgezwungen wird, hinterfragen darf eine Frau nicht, die Autorin speist eine an solchen Stellen mit lauwarmen Ausreden ab. Sich wehren darf eine Frau auch nicht. Dafür kommt sie ins Gefängnis. Wird eine Frau zu wütend und hat auch noch magische Kräfte, muss sie lernen, sie zu kanalisieren, damit kein Unheil, vor allem kein gegen Männer gerichtetes, mehr geschieht.
Handeln Frauen, so geschieht es im Verbogenen, zum Teil so versteckt, dass es sich auch der Leserin erst nach einiger Überlegung erschließt. Die Macht der Männer über Frauen wird dadurch nicht beeinträchtigt, vor allem nicht die Überzeugung der Männer von ihrer Macht, eine seltsam widersprüchliche Botschaft, die das Buch durchzieht.

Breit und wortreich

Lanagan breitet ihre Welt gemächlich und in aller Ausführlichkeit aus. Das Handeln, Nachdenken und allmähliche Begreifen ihrer Figuren werden sehr wortreich dargeboten, mit zahlreichen Details und sehr adjektivlastig. Die Arbeit, die die Übersetzerin leisten musste, ist nicht zu unterschätzen. Ihre Entscheidung, auf den Dialekt, den einige Figuren im Originaltext sprechen, zu verzichten und ihn mit Verschmelzungen und Lautauslassungen in Kombination mit etwas derberen Ausdrücken zu kombinieren, ist unbedingt zu begrüßen, dass es im Kampf mit den Adjektiven gelegentlich zu tödlichen Zwischenfällen wegen schierer Übermacht kam, angesichts der Schwäche der Vorlage verzeihlich. Beherrschung und Beschränkung vonseiten der Autorin würden auch Leserinnen begrüßt haben. Geduld beim Lesen, vor allem im Mittelteil, ist sehr nötig.
Das Originalmärchen ist im Anhang abgedruckt, eine gute Idee.

Die große Frage

Die Welt, in die Liga zurückkehren muss, die reale, wie die Autorin behauptet, ist eine krude. Männer tun, was ein Mann eben tun muss: Nämlich schwere Arbeiten übernehmen, erfolgreich Kaufmann und Politiker sein, vor allem aber, da triebgesteuert, die eigene sexuelle Macht zur Schau stellen und gelegentlich Frauen vergewaltigen. Frauen ihrerseits waschen, kochen, backen, leiden, nähen und sterben im Kindbett. Das alles macht die Welt vielfältiger, wie mehrfach festgestellt wird, und deswegen interessanter.

Einem Opfer wie Liga wird eine gewisse Zeit zugestanden, ihr Trauma zu überwinden, aber danach muss es auch gut sein. Schutz und Trost findet sie bei der Hexe Annie, die durch ihren Zwergenfreund inzwischen zu enormem Reichtum und damit zu Vornehmheit gelangt ist. Ausgerechnet Annie, die Ligas Vater jedes Mal das Gift verkaufte und sehr genau Bescheid wusste, was mit Liga geschah, wie offenbar das halbe Städtchen. Annie liegt Lanagan deutlich am Herzen, es gibt einige Bemühungen, sie reinzuwaschen. Urdda, die sich in der realen Welt fühlt wie ein Fisch im Wasser, hilft Annie dann dabei, die magischen Reichtümer in reale umzuwechseln, ehe eine dea ex machina, eine allwissende Zauberin, die wild gewordene Magie wieder ins Lot bringt und sich dabei auch die falschen Güter in Annies Truhen auflösen. Was in den Truhen anderer Geschäftsleute passiert, ist nicht wichtig. In der Tat eine interessante Handlungsweise.

Ist ein Mann als ›edel‹ klassifiziert, scheut Lanagan keine Mühe, die Märchenvorlage zu übergehen. Der Prinz, der im Bären steckt, ist hier nicht einmal der Mörder des Zwergs. Er bekommt auch sein jungfräuliches Schneeweißchen, obwohl er schon eigene Kinder mit in die Ehe bringt. Das bedeutet neues Leid für Liga, aber als wahre Frau erträgt sie auch das und freut sich selig entsagend an ihren Töchtern und zukünftigen Enkeln.

Am Ende bleibt die große Frage, ob es sich bei ›Ligas Welt‹ um ein konsequent umgestaltetes Märchen, eine sehr verdeckte Kritik an bestimmten, zeitgebundenen Verhältnissen zwischen den Geschlechtern oder ein Manifest der Heuchelei und Selbstgefälligkeit auf Kosten von Frauen handelt.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Margo Lanagan: Ligas Welt
Tender Morsels, 2008 aus dem Englischen übersetzt von Mayela Gerhardt
Hamburg: Rowohlt Rotfuchs 2014
512 Seiten, 16,99 Euro
Jugendbuch ab 16 Jahren

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Lyrik und Barbarei

Nächster Artikel

Japan liegt an der Ostsee

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Der Fluch der guten Tat

Jugendbuch | Isaac Blum: Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen

Es gibt Grenzen für Beziehungen. Das muss ein jüdischer Junge schmerzhaft erleben, als er sich in ein christliches Mädchen verliebt. Auch im 21. Jahrhundert scheinen manche Welten inkompatibel. Von ANDREA WANNER

Verlockendes Teufelszeug

Jugendbuch | Andy Mulligan: Liquidator Wenn sich Jugendliche an die Lösung eines Kriminalfalls machen, gibt es für Autorinnen und Autoren zwei Möglichkeiten. Entweder man sorgt für einen kleinen, mehr oder weniger plausiblen Fall, dessen Aufklärung durch Amateure im Bereich des Möglichen liegt. Oder man greift in die Vollen. Dann wird es vermutlich eher unglaubwürdig, dafür spannend. Wie im vorliegenden Fall. Von ANDREA WANNER

Keine Rettung in Sicht

Jugendbuch | Lindsay Galvin: Abgründige Geheimnisse Zwei Schwestern, Aster und Poppy, sind nach dem Tod ihrer Mutter auf dem Weg nach Neuseeland. Dort sollen die beiden bei ihrer Tante, einer renommierten Krebsmedizinerin, leben. Was ein neuer Anfang sein könnte, wird zum Alptraum. Von ANDREA WANNER

An die Wand gefahren

Jugendbuch | Kerstin Lücker/Ute Daenschel: Weltgeschichte für junge Leserinnen Wer im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine Weltgeschichte verfasst, noch dazu in einem einzigen Band, ist entweder ein Genie, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Oder in eben dem Maß ahnungslos. Bei dem vorliegenden Buch war kein Genie am Werk. Von MAGALI HEISSLER

Unsicherheit garantiert

Jugendbuch | Ulrike Renk: Liebe ist keine Primzahl Sicheren Boden unter den Füßen haben, sich sicher sein, in Sicherheit wissen und das ständig, wer wünscht sich das nicht? Leider sind das Kinderträume. Das merkt man zuerst und dann unerwartet schmerzlich in der Pubertät. Da wird klar, dass das Leben, wenn schon nichts anderes, zumindest Unsicherheit garantiert. Wie man mit dieser Erfahrung zurechtkommt, zeigt Ulrike Renk in ihrem ersten Roman für Jugendliche ›Liebe ist keine Primzahl‹. Von MAGALI HEISSLER