/

Grenzen überschreiten

Menschen | Zum Tode des Schriftstellers, Publizisten und Kritikers Fritz J. Raddatz

»Zwischen Suhrkamp, Avenarius und Baedeker. Mehr kann man nicht verlangen.« So schrieb Fritz J. Raddatz in seinem Tagebuch über die Wahl seiner Grabstätte auf Sylt, die er sich schon weit vor seinem 70. Geburtstag gesichert hatte. Ein Nachruf auf Fritz J. Raddatz von PETER MOHR

Foto: Blaues Sofa/Bertelsmann
Foto: Blaues Sofa/Bertelsmann
»Ich bin der Auffassung, dass Literatur immer über die Grenzen gehen muss und da, wo sie wichtig wurde, immer über die Grenzen gegangen ist, ob es Anstand betraf oder Moral oder politisches Denken.« So beschrieb der literarische Tausendsassa Fritz J. Raddatz, der am 3. September 1931 in Berlin als Sohn eines UFA-Direktors geboren wurde, in einem Interview sein literarisches Credo, das in diversen Funktionen seine Arbeit prägte – als Lektor bei Volk und Welt und Kindler, als stellvertretender Verlagsleiter bei Rowohlt, als Professor an der Uni Hannover, und von 1977 bis 1985 als Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung ›Die Zeit‹.

Raddatz, der Hans Dampf in allen Literaturgassen, hat streitbare Sachbücher über Karl Marx, Gottfried Benn und Heinrich Heine verfasst, das Tucholsky-Gesamtwerk herausgegeben, Filme über Ezra Pound, Louis Aragon und Erich Mühsam gedreht und sich auch als Romanautor versucht.
Nicht selten führte ihm bissige Polemik die Feder. Unter dem 14. November 1986 notierte er in seinem Tagebuch: »Mindestens ebenso verständnislos stehe ich ja vor der Kultur-»wende«. Der Journalismus? Ein Meinungsragout breitet sich aus, mal süß, mal sauer angerichtet. Ragout bleibt Ragout.«

Seine eigenen literarischen Arbeiten, die Romane ›Kuhauge‹, ›Der Wolkentrinker‹ und ›Die Abtreibung‹, die 2006 unter dem Titel ›Eine Erziehung in Deutschland‹ in einem Sammelband neu erschienen sind, wurden von den Kollegen mit einer gehörigen Portion Skepsis aufgenommen.
Hämische Untertöne waren auch in den Kommentaren nicht zu überhören, die 1985 nach seinem Ausscheiden als Feuilletonchef der ›Zeit‹ erschienen waren. Raddatz war über ein manipuliertes Goethe-Zitat eines Kollegen gestolpert und danach auf den Posten des Kulturkorrespondenten abgeschoben worden. Ein langjähriger Weggefährte, der ›Zeit‹-Redakteur Karl-Heinz Janssen, bezeichnete Raddatz, der unweit der Alster im Hamburger Vorort Harvestehude lebte, als »den anregendsten, neugierigsten, temperamentvollsten und eloquentesten« Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung.

Seine 2003 erschienene Autobiografie ›Unruhestifter‹, die sich wie ein reißerisches Stück Boulevardprosa liest, funktionierte er kurzerhand zu einer Generalabrechnung mit allen ihm missliebigen Personen um. Der einstige ›Zeit‹-Chefredakteur Theo Sommer überreichte nach einer Lesung aus diesem Buch – durchaus symbolträchtig – eine Mimose als Geschenk.

Der Rotwein- und Porsche-Liebhaber Raddatz, der für seinen Tucholsky-Film mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, mag mit seinem Versuch, sich als Schriftsteller zu etablieren, gescheitert sein, aber mit seinen Essays, Kritiken und großen Interviews für die ›Zeit‹ hat er die Kulturlandschaft bereichert und immer wieder zu heftigen Kontroversen Anstoß gegeben. »Alles Leben hat seine Grenze«, hatte er im letzten Herbst erklärt und seinen Rückzug vom Journalismus verkündet. Am heutigen Donnerstag ist Fritz J. Raddatz, ein streitbarer Geist (zwischen allen Stühlen), im Alter von 83 Jahren gestorben.

| PETER MOHR

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der Schatz der Geschichtenerzähler

Nächster Artikel

Heil Boskop!

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Ein Bekenntnis zur Sprache der Literatur

Roman| INTERVIEW | Daniel Galera: Flut Flut ist der erste ins deutsche übersetzte Roman des brasilianischen Schriftstellers Daniel Galera. Dort erzählt er eine ganz besondere Familiengeschichte, die drei Generationen umfasst. BETTINA GUTIÉRREZ hat mit dem Autor gesprochen.

Auschwitz als romanzo-verità

Menschen | Luca Crippa / Maurizio Onnis: Wilhelm Brasse Wilhelm Brasse ist kein Geheimtip, auch wenn der Verlag das unauffällig suggeriert. Irek Dobrowolskis Film mit ihm und über ihn, ›Portretisca‹ (Der Porträtist), lief 2005 im polnischen Fernsehen und seitdem auf vielen internationalen Festivals. Es gab auch in deutschen Medien große Geschichten über Brasse, Erich Hackl hat ihm zwei literarische Reportagen gewidmet, und nach Brasses Tod im Oktober 2012 erschienen Nachrufe in aller Welt. Einen davon, so berichtet das Autorenduo Luca Crippa & Maurizio Onnis in seinem Blog, »hat Maurizio beinah zufällig online gelesen«. So entstand ein Projekt, das tatsächlich bis

Kampf gegen das Vergessen

Menschen | 100. Geburtstag von Jorge Semprún

»Nichts könnte mich emotional mehr bewegen, wenn ich an mein Leben und an meine Illusionen für die Zukunft denke, als einen Preis für Europäische Literatur in Salzburg empfangen zu dürfen, der Heimat von Wolfgang Amadeus Mozart, Weltbürger des aufgeklärten Europas«, bekannte der spanische Schriftsteller Jorge Semprún 2006 in seiner Dankesrede zur Verleihung des österreichischen Staatspreises für europäische Literatur. Ein Porträt von PETER MOHR

Alles ist offen und nichts ist geklärt

Menschen | Ingeborg Gleichauf: Ingeborg Bachmann und Max Frisch Sie gehören zu den größten Literaten des 20. Jahrhunderts. Sie teilen ihre Leidenschaft, ihre Gedanken, später auch das Bett. In Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Eine Liebe zwischen Intimität und Leidenschaft wagt sich Ingeborg Gleichauf an die wechselvolle Geschichte des Schriftstellerpaares. Von EVA HENTER-BESTING

Der Entdecker der Langsamkeit

Menschen | Zum 75. Geburtstag des Schriftstellers Sten Nadolny »Nun sind wir im Bett, ich so mehr theoretisch, der Junge aber richtig, mit Flanellnachthemd und unter dem Plumeau. Er ist so müde, dass er sofort einschläft. Das ist jetzt ein spannender Moment: Schlafe ich auch ein, schlafe ich seinen Schlaf, träume ich seine Träume oder eigene?« Diese Gedanken gehen dem pensionierten Richter Wilhelm Weitling durch den Kopf – Hauptfigur in Sten Nadolnys letztem Roman ›Weitlings Sommerfrische‹ (2012). Ein Porträt von PETER MOHR