/

Kein Platz für gewissensgemütliche Narrative

Gesellschaft | Götz Aly: Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus

Götz Aly ist einer der nicht wahnsinnig vielen deutschen Publizisten, die verlässlich für fruchtbare Querschüsse im öffentlichen Diskurs sorgen. Ein Querkopf, der ohne institutionellen Schutzwall, sondern auf eigene Rechnung, im eigenen Namen arbeitet. Immer streitbar, immer lesbar. Und notfalls in ureigener Sache, wenn die eine oder andere Institution wieder mal nachhaltig übel nimmt, dass er die schmutzigen Kapitel ihrer Geschichte hervorkramt. Exzellenz-Einrichtungen wie das in NS-»Euthanasie«-Morde verstrickte Max-Planck-Institut oder das Otto-Suhr-Institut der FU Berlin, das 2011 ganz links-bewegt demonstrierte, was es von Quereinsteigern hält. Man darf gespannt sein, was diesmal für Schaum vorm Mund sorgt beim ›Volk ohne Mitte‹. Von PIEKE BIERMANN

Aly VolkDer Titel ist schon mal gleich genial, ein Einstieg, der stutzig macht: Ausgerechnet die Deutschen mit ihrem manisch beschworenen und gehätschelten Mittelstand, ihrem von allerlei gefühlten Eliten bespöttelten Mittelmaß – ein ›Volk ohne Mitte‹? Oder anders, als zweite Assoziation könnte sich anbieten: Nach seiner bitterbösen Abrechnung ›Unser Kampf‹ 1968 (von 2008) knöpft sich Götz Aly den nächsten hochbelasteten Nazibegriff vor und bürstet ihn gegen den Strich: das ›Volk ohne Raum‹.

Ist das auch wieder bloß provokationsverliebte Koketterie, wie etliche Kritiker damals polterten? Nein, ganz und gar nicht. Und wer keine Angst vor Fingern hat, die in eigenen (auch sich selbst verhehlten) Wunden bohren, wer bereit ist, sich »mit Geduld und Kaltblütigkeit ruhigen Erwägungen hinzugeben« (Wilhelm Röpke), kann nur sagen: Chapeau für diese Perspektive. Und für die im Titel auch aufblitzende Chuzpe: Der einem gewissen akademisch-selbstreferenziellen Korpsgeist als nicht-satisfaktionsfähig geltende Historiker Aly zollt mit dem Titel demonstrativ den »Schönen Künsten« Achtung. Kein Wunder, er hat sie immer wieder kennengelernt als »einer steril gewordenen Geschichtsschreibung, eintönigen Präsentationen oder den sich wandelnden Techniken der Schuldreduktion« überlegene Beiträge zum gesellschaftlichen »narrative«.

Jahrestage und Jahrhundertschritte

Das Bild vom Volk ohne Mitte stammt selbst von einem Bild, das sich wiederum auf eine Skulptur bezieht, nämlich Wolfgang Mattheuers ›Der Jahrhundertschritt‹ von 1984. Mattheuer selbst hat es gemalt und ›Ohne Mitte‹ genannt. Die Skulptur stellt einen Mann mit hakenkreuzförmig verrenkten Gliedmaßen dar, der rasend dynamisch wirkt, aber eigentlich haltlos ist – ihm fehlt die balancesichernde Mitte. Für Aly verbindet sich diese bildliche mit einer literarischen Figur: Alfred Fretwurst aus Uwe Johnsons ›Jahrestagen‹ von 1970, dem prototypischen deutschen Adabei, der von allem sofort freudig profitiert, bei jeder Schweinerei eifrig mitmacht und hinterher für nichts verantwortlich sein will.

Antidot gegen Pegida & Co.

In der Tat ein genialer Titel also, denn um genau diese Figur geht es in der Sammlung aus Artikeln, Essays, Reden, sogar einer Predigt, die andernorts veröffentlicht waren und durch ›Nachträge‹ aktualisiert oder mit neueren Texten zum jeweiligen Sujet ergänzt wurden. Es gibt außerdem ganz neue Beiträge, zum Beispiel eine Hommage auf den oben zitierten Wilhelm Röpke, einen liberalen Ökonomen, der bereits 1930 auf ein Flugblatt schrieb: Wer für die NSDAP stimme, müsse wissen, »dass er für den Krieg nach innen und außen, für sinnlose Zerstörung stimmt«. Röpke definierte auch gleich nach 1933 die NS-Regierung als »Massenaufstand gegen Vernunft, Freiheit und Humanismus« und prangerte 1944 (aus dem Schweizer Exil) das »klägliche« Versagen und die Feigheit der geistigen Elite in Deutschland an. Nicht nur dieser Essay ist bestes Antidot in Sachen »Pegida & Co.« heute.

Homöopathologie

An Röpkes leitmotivischen Verzicht auf »Hitzköpfigkeiten, Taktlosigkeiten und Einseitigkeiten«, hält Aly sich nicht so verlässlich, wie er ihn zitiert. Er erlaubt sich durchaus die eine oder andere diskriminierende Grobheit – zum Beispiel wenn er sich mokiert, dass Straßen in Berlin nach nicht-weißen Schriftstellerinnen umbenannt werden sollen, die ihm persönlich nichts sagen. Röpkes Beharren auf der Bedeutung des Massenhaften dagegen übernimmt er. Es gehört nun mal zu den unangenehmen Tatsachen, dass »die NSDAP die erste veritable Volkspartei in Deutschland« war. Und aus dem Massencharakter ihrer »Bewegung« folgen nicht zuletzt die vielen schönen Möglichkeiten für spätere Selbstentlastung. Die geradezu kapillare Arbeitsteilung »verdünnt« das individuelle Mitmachen der Massen dermaßen, dass sich noch die übelsten Täter im Nachhinein auf eine Art Homöopathisierung jedes Verantwortungsgefühls verlassen können.

Immer wieder kramt Aly Unbekannte(s) aus der Versenkung, oft gegen erbitterten Widerstand. Immer wieder zeichnet er die Strategien des Vertuschens und Verleugnens nach, den »zunftmeisterlichen Dünkel« enttarnter Wissenschaftler, das aggressive Bekämpfen aller, die das Schweigen durchbrechen wollen. Immer wieder muss erst »das Ausland« Druck erzeugen, damit Archive aufgehen und die Überreste von »Euthanasie«-Mordopfern bestattet werden, zum Beispiel. Mit unseren vorbildlichen »Selbstheilungskräften« sollten wir Deutschen also lieber nicht protzen. Immer wieder (und neuerdings wieder öfter) rasselt schließlich die Ressentimentmühle, man müsse ja hierzulande alles Mögliche tun, weil »das Ausland« das so wolle.

Der Kalte Krieg als Heilschlaf

Götz Aly hat kürzlich in einer Diskussion empfohlen, man müsse, was historische Analyse und eventuelle Prognosen angeht, »als Geschichtspessimist an die Sache rangehen«. Das klingt in der Tat zumindest halb kokett. Denn Aly wäre nicht der polemische Instandbesetzer bequemer Selbstbilder, wenn er nicht gleich eine neue Heilige Kuh Richtung Schlachthaus befördern würde. Der Kalte Krieg, überlegt er »zum 3. Oktober 2014«, war vielleicht eine »40-jährige Periode politisch organisierter Vereisung«, eine »bewegungs- und gedächtnisarme Zeit der Rekonvaleszenz für den gesamten Kontinent.« Damit erfüllte er die Funktion »des künstlichen Komas, des Heilschlafs, in dem das selbst Erlittene und das anderen Menschen Angetane verdrängt werden, um einen Neuanfang zu ermöglichen.« Gut möglich, dass Alys Kontrahenten – des »ewigen Nazithemas« müde – sich diesmal darauf einschießen werden.

| PIEKE BIERMANN

Eine erste Version der Rezension wurde am 20. Februar 2015 bei Deutschlandradio Kultur veröffentlicht, ein Gespräch mit Pieke Biermann ist als Audio on Demand verfügbar.

Titelangaben
Götz Aly: Volk ohne Mitte
Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus
Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2015
266 Seiten, 21,99 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

2 Comments

  1. Vielen Dank,

    leider haben wir keinen direkten Kontakt zu Herrn Aly, am besten versuchen Sie es bei seinem Verlag.

    Viele Grüße
    TITEL

Schreibe einen Kommentar zu bernhard.lippe@web.de Antworten abbrechen

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mehr als nur ein Mythos

Nächster Artikel

Neben der Spur

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Hangover City

Gesellschaft | Lutz Hachmeister: Hannover. Ein deutsches Machtzentrum »Hannover ist spektakulär langweilig«, beschied 2010 ein gewisser Tim Renner, der mittlerweile als staatssekretierender Fachmann für Spektakel in Berlin wirkt, und befürchtete eine »Hannovernication« der Berliner Republik infolge des ESC-Triumphs einer gewissen Lena aus Hannover. Für einen, der Hannover nicht weiter kennt, ist das keine rasend originelle, aber handelsübliche Sottise. Jetzt hat sich einer daran gemacht, Hannover zur (mehr oder weniger) heimlichen Exportkanone für Polit-Schwergewichte zu erklären, der immerhin als Kind öfter in den Ferien am Steinhuder Meer war, dem seines Wissens »Binnensee-Retreat der Hannoveraner«: Lutz Hachmeister, selbst ein Schwergewicht, nämlich des

Gegen die Wand

Gesellschaft | Fabian Scheidler: Das Ende der Megamaschine   Der Beginn der Abweichung, des Irrwegs, findet sich verschieden datiert bei so unterschiedlichen Koryphäen wie Martin Heidegger, Lewis Mumford, Hanspeter Padrutt, die Reihe ließe sich fortsetzen. Doch wichtiger wäre zurzeit eine Antwort auf die Frage, weshalb niemand auf sie gehört und ihre Überlegungen in politische Praxis umgesetzt hätte. Von WOLF SENFF

Demokratienachhilfe

Sachbuch | Gregor Hackmack: Demokratie einfach machen

Nur verschwindend geringe 16 Prozent der Bevölkerung hatten im Jahr 2013 Vertrauen in die politischen Parteien. Weniger als jeder fünfte Bürger also. Vier nicht, einer vielleicht. Seitdem dürfte es nicht besser geworden sein. Die etablierten Parteien und ihre Akteure (Politiker) haben ein Vertrauens- und Akzeptanzproblem. Die Gründe dafür präsentiert Gregor Hackmack in seinem Buch ›Demokratie einfach machen‹ sehr pointiert auf etwas mehr als 130 Seiten. Von BASTIAN BUCHTALECK

Positive Effekte – Fehlanzeige

Gesellschaft | Hannes Hofbauer: Kritik der Migration

Die Wanderungsbewegungen über Grenzen hinweg sind ein aktuelles und höchst umstrittenes Thema, das eine Renaissance nationalistischen Denkens hervorruft und rechtskonservativen Kräften zu Resonanz verhilft. In Deutschland, in Europa, in außereuropäischen Ländern, nicht zuletzt in den USA. Von WOLF SENFF

Please, don’t be passive!

Gesellschaft | Anthony B. Atkinson: Ungleichheit – Was wir dagegen tun können Die Kluft zwischen Bettelarm und Superreich wächst zunehmend – auf ein Prozent konzentriert sich über 50 Prozent des Weltvermögens. Wie kommt es zu dieser Ungleichheit und was können wir dagegen tun? Ist die von der Politik präferierte Steuererhöhung wirklich die universelle Lösung? Ein Blick in die Historie der Weltnationen macht eines deutlich: Wir müssen handeln, statt nur zu diskutieren! Von MONA KAMPE