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Der moderne Sisyphos

Gesellschaft | Yanis Varoufakis: Time for Change – Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre

Wem David Graebers ›Schulden‹ oder Thomas Pikettys ›Kapital im 21. Jahrhundert‹ zu dick sind, wer nicht mit ›Attac‹ oder ›Occupy!‹ zelten geht, aber mit wachsendem Ingrimm erlebt, wie Geld die Welt nicht mehr nur regiert, sondern ruiniert, der/die greife zu Yanis Varoufakis‘ ›Time for Change‹ rät PIEKE BIERMANN. Der frischgebackene Ex-Finanzminister Griechenlands hat ein kleines Buch geschrieben, in dem er erklärt, wie das funktioniert, was wir Wirtschaft nennen.

TimeforchangeEr erklärt es nicht irgendwem, sondern seiner Tochter Xenia. »Sie ist mir gegenüber äußerst kritisch«, schreibt er einleitend und nennt es seine nachhaltigste Motivation: Er habe sich nämlich »am Ende jedes Kapitels gefragt, ob sie mir beim Lesen einen angewiderten Blick zuwerfen würde.« Xenia lebt in Sydney bei ihrer auch nicht eben unterwürfigen Mutter; Margarite Poulos ist dort Dozentin für europäische Geschichte, sie und Varoufakis sind geschieden, aber nicht verfeindet. Er lebt zurzeit vor allem in Athen mit der Künstlerin Danae Stratou, mit der er unter anderem im Umweltprojekt Vital Space arbeitet.

Wir dürfen uns, um Camus zu variieren, Varoufakis als einen modernen Sisyphos vorstellen. Zumindest begreift er »Privates« wie Familienbeziehungen als Arbeitsfeld auch für sich als Mann und lässt sich »Öffentliches« wie Politikmachen nicht durch das System Hausfrauenehe finanzieren, das auch heute in Europa noch west – in einer unheiligen Allianz aus Marktgängigkeit und Ideologie.

Man sollte das im Hinterkopf behalten. Es ist nämlich nicht abwegig, soviel vermeintlich »Persönliches« voranzustellen, sondern eine Frage des Anstands angesichts des extrem feindseligen Bildes, das vor allem hierzulande gezeichnet wird. So wie Varoufakis ist jedenfalls noch kein männlicher Politiker als Person demontiert worden, die Art Attacke wird sonst nur gegen Frauen geritten, die nicht verhehlen können oder wollen, dass sie sich außer eines brillanten Hirns auch noch eines Körpers erfreuen. Da wird gern mal unter die Gürtellinie gezielt, und der Minimalvorwurf lautet: arroganter, abgehobener Schnösel.

›Time for Change‹ ist ein 180 Seiten schlanker Grundkurs darüber, wie eng und tendenziell bedrohlich Arbeit, Geld, Politik und Leben ineinander verhakt sind: intelligent und elegant erzählt, anschaulich, weil angedockt an den heutigen Erfahrungsschatz aus Film, Literatur, Geschichte und Digiwelt. Varoufakis arbeitet gern mit dem »neue-Kaiserkleider«-Prinzip, beschreibt die hinter Ökonomen-Mythen getarnten nackten Tatsachen. Zum Beispiel: Schulden sind kein durch schwäbische Hausfrauentugend zu vermeidender Betriebsunfall, sondern Ursprung und Kern der Marktwirtschaft; wer Arbeitskraft und Geld billiger macht, generiert gerade nicht mehr Beschäftigung und Wohlstand, sondern ein investitionsfeindliches, unproduktives Klima; wer »mehr Markt« durchboxt, erzeugt automatisch »mehr Staat«, nämlich staatlichen Interventionismus zum Schutz des Markts, wie man beim Emissionshandel studieren kann; Kapitalismus ist kein rationales System, sondern reagiert wie die Börse in André Kostolanys Bonmot »gerade mal zu 10% auf Fakten. Alles andere ist Psychologie«; er hantiert mit Hypotheken auf die Zukunft und produziert Crashs, sobald die Gegenwart den Gegenwert nicht mehr hergibt.

Diese und mehr Paradoxa dröselt Varoufakis auf, schlüssig, aber nie aus einem geschlossenen System heraus, unautoritär, ohne Schaum vorm Mund. Nur die Wirtschaftswissenschaftler kriegen hin und wieder kleine Giftspritzen ab – aber er zählt sich, durchaus selbstkritisch, dazu und sagt »wir«. Verantwortungslose Schuldzuweisung klingt anders. Geschrieben wurde das Buch übrigens 2013, in Griechenland erschienen ist es 2014 – da gab es nicht mal die Idee von einem »Popstar Varoufakis«. Jetzt erscheint es auf Deutsch, mit einem Vorwort, das neben einer »Hommage an die Idee von Europa als Raum gemeinsamer demokratischer Ideale«, auch eine Liebeserklärung enthält – an Deutschland: An die Radiosendungen der Deutschen Welle während der Athener Obristendiktatur 1967-74. Damals hatten deutsche Stimmen den griechischen Widerstandsgeist befeuert.

Tochter Xenia war 2013 vermutlich in dem Alter, in dem Kinder aufs Gymnasium wechseln. Was ihr Vater erzählt, sollte niemand als »Klippschule« abtun, ohne einen Blick in die Medienforen zu werfen, wo selbst erwachsene Bildungsbürger nicht mal auf Vorschulniveau sind, was das Wissen über Wirtschaft angeht. Und schon gar nicht simplizistisch ist die Empfehlung, die Varoufakis in jedem Kapitel variiert: Guck genau hin, sei kritisch, glaub nicht einfach, hab ein Gewissen. Die Freiheit zur Entscheidung ist elementar, aber unbequem, und sie funktioniert so ähnlich wie in einer Szene aus dem Film ›Matrix‹: Neo muss wählen zwischen einer roten und einer blauen Pille. Die blaue vernebelt die Sinne, die rote macht empfänglich für reale Wahrheiten. »Zweifellos«, schreibt Varoufakis am Ende, »wirst du es häufig bereuen, nicht die blaue Pille genommen zu haben. Aber es wird auch die anderen Momente geben, in denen du die Lügen der Starken durchschauen und in ihrer ganzen Hässlichkeit und Sinnlosigkeit begreifen wirst. Das wird deine Belohnung sein.«

Es ist das gute alte Aufklärungsprinzip »sapere aude« – trau dich zu wissen. Die Älteren unter uns kennen es noch und schätzen es wieder zunehmend.

| PIEKE BIERMANN

Titelangaben
Yanis Varoufakis:Time for Change – Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre
Aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand
Hanser Verlag, München 2015
179 Seiten, Broschur, 17,90 EUR
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