Kulturbuch | David Graeber: Schulden
Zurzeit scheint David Graeber everybody’s Knuddel-Radikalinski zu sein. Der gelernte und lehrende Anthropologe mit dem kecken Jungsgesicht düst von Occupy!-Camp zu Occupy!-Camp, bedient zwischendurch allerlei Medien mit frisch-fröhlichen Interviews, heimst Jubelrezensionen in unseren meinungsmachenden Blättern und sogar verbale Streicheleinheiten von manchem Banker ein. Dabei ist das, was er der Welt zu sagen hat, keine leichte Kost, sondern ein wissenschaftlich fundierter Generalangriff auf den Kapitalismus. Wie man seinem 400-Seiten-Werk Schulden. Die ersten 5000 Jahre entnehmen kann. Von PIEKE BIERMANN
Ein Gespenst geht um in Globalistan – das Gespenst der Schulden. So könnte David Graebers monumentales Manifest auch anfangen. Denn erstens tritt der in London lehrende amerikanische Anthropologe und Occupy!-Aktivist ohne falsche Bescheidenheit auf wie Marxengels‘ legitimer Enkel. Zweitens ist Schulden durchaus eine Art neues Kommunistisches Manifest. Nur ist der »Basiskommunismus«, den er darin unter anderem empfiehlt, nicht teleologisch, sondern phylogenetisch: das heißt, nicht die Ziellinie, sondern der Startblock vor dem Schuss. Für Graeber ist die Geschichte der Menschheit nicht eine Geschichte von Klassenkämpfen, sondern eine Geschichte von Schulden. Und ihm geht es – um im Bild zu bleiben – um nichts Geringeres als um weltweite Gespensteraustreibung.
Die beginnt mit einem Generalangriff auf die von Adam Smith gelegten Fundamente der ökonomischen Lehre. Deren Mantra: Am Anfang war der Markt mit seiner Tauschwirtschaft, dann kam das Geld als bequemeres, allgemeines Wert-Äquivalent dazu, und erst danach wurde die Kreditwirtschaft samt dem heute so grotesk virtuellen Geld erfunden, ist pure Ideologie. Nicht zuletzt deshalb, weil Ökonomen seit je alles stur ignorieren, was Anthropologen, Ethnologen und andere Wissenschaftler längst erforscht haben. Niemand hat je für irgendeine Weltgegend in irgendeiner Epoche eine als Tauschmarkt funktionierende Gesellschaft, wie »primitiv« auch immer, entdeckt und nachgewiesen. Aber bereits Jahrtausende vor der Erfindung des realen Geldes, der quasi-amtlich zertifizierten Münzen, hat eine virtuelle Kreditwirtschaft floriert. Das beweisen lange bekannte Scherben aus Mesopotamien, auf denen in sumerischer Keilschrift säuberlich Schulden und Zinsen gelistet sind. Sie sind 5000 Jahre alt.
Von Schulden und Waffen
So rum wird also ein Schuh draus: Am Anfang war der Kredit, die Verschuldung. Damit ging der Schlamassel los. Und so rum begreift man nach Graebers 400-Seiten-Parforceritt durch die Geschichte der Schulden tatsächlich besser, was da 2008 als vermeintlich unvorhersehbare »Finanzkrise« fast die Welt zum Stillstand gebracht hätte. Graeber erzählt episch breit, anekdotisch anschaulich und überbordend materialreich, welche moralischen Folgen über die Jahrtausende aus dem Kredit(un)wesen entstanden, das heißt erzwungen wurden. Die fatale Verknüpfung von Schulden/Sünde und Erlass/Vergebung in allen großen Religionen etwa wirkt bis heute wie ein – um wiederum die Marxengelssche Parallele zu bemühen – psychosozialer »Überbau«. Die dazugehörige »Basis« ist eine Schuldenwirtschaft, in der »bewaffnete Männer immer dabei« sind und die im Laufe der Jahrtausende aus Werten wie Vertrauen bloße abstrakte, quantifizierbare Verbindlichkeiten gemacht hat. Deshalb liegen die Ursprünge des Geldes in Verbrechen und Vergeltung, Krieg und Sklaverei, kurz – Gewalt.
Schulden machen abhängig, je nach Höhe mal den Schuldner, mal den Gläubiger. Der witzelnde Volksmund weiß das längst: Wenn du einen Kleinkredit hast, sagt dir höchstens dein Bankschalterberater guten Tag, wenn du bei einer Bank mit einer Million in der Kreide stehst, empfangen sie dich in der Chefetage mit Champagner. Dennoch gilt – nicht unter Ökonomen, aber in der Öffentlichkeit – weiter das moralische Mantra: »Schulden muss man zurückzahlen!« Graeber macht am Beispiel des IWF und seiner Kreditpolitik schlagend klar, wie man damit über Leichen geht – moralisch gänzlich ungerührt und im wörtlichen Sinn, nicht nur in der »Dritten Welt«. Denn das Geld ist nie weg, es wechselt »nur« die Adresse. Und die Antwort auf die Frage, wer wann wo wie für Schulden aufkommt, liegt vor allem in der »bewaffneten Macht dahinter«.
Schulden ist ein Fundamentalangriff auf den Kapitalismus, aber zum Glück ohne fundamentalistischen Furor. Manchmal quer durch die Epochen und die Geographie hüpfend, manchmal »primitive« Stammesvorbilder romantisierend, manch schöne Dialektik schnöde rechts liegen lassend – die Abschaffung des Faustrechts zugunsten legitimierter bewaffneter Staatsmacht etwa könnte man durchaus als positiven Kollateralschaden begreifen und untersuchen –, aber immer risikofreudig im Denken. Also zu eigenem Denken – und Widerspruch – einladend. Was kann man Besseres über ein Manifest sagen?
Eine erste Version dieser Rezension wurde am 6. Juni 2012 bei Deutschlandradio Kultur veröffentlicht.
| PIEKE BIERMANN
Titelangaben
David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre
Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer
(Debt. The first 5,000 Years, 2011)
Stuttgart: Klett-Cotta 2012.
536 Seiten. 26,95 Euro