Kulturbuch | Dierk Walter: Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion
Dierk Walter mischt die Vergangenheit auf und man kann dem so gar nichts entgegenhalten. Europa als Friedensmacht? Die Freie Welt als Vorbild? Nein, kommt nicht vor. Dierk Walter widmet sich der »politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtprojektion«, ausgehend vom »kapitalistischen Zentralstaat der westlichen Moderne«. Von WOLF SENFF
Er bringt das traditionelle Bild eines über fünf Jahrhunderte herrschenden, zivilisierten Eurozentrismus ins Wanken. Nicht nur dass er permanente territoriale Expansion und Herrschaftssicherung in den Regionen der Peripherie nachweist, er zeigt, wie äußerst brutal und rücksichtslos dabei vorgegangen wurde. Und das Resumee ist wirklich, daß die Konfrontation einander fremder Kulturen Aggression auslöst und barbarische Kriege? Man möchte das nicht wirklich glauben.
Die Imperien der westlichen Moderne
Kriege werden als zentrales Charakteristikum westlicher Moderne verstanden. »Bis tief ins 19. Jahrhundert war die Mobilisierung von Menschen, Material und Finanzen für den Krieg nahezu die einzige Existenzberechtigung des Staates«, und »für die Großkriege des 20. Jahrhunderts wurden viele Millionen Menschen mobilisiert«.
Diese Sichtweise ist neu bzw. relativ neu. Kolonialismus wie Imperialismus wären folglich Teilstrecken einer jahrhundertelang bis heute wenig veränderten westlichen Moderne, deren Expansion auf Macht, Machterhaltung, Machterweiterung mittels Kriegführung basiert, in der ein »kapitalistisch-bürokratisch-militärischer Staat« den »Kern aller Imperien der westlichen Moderne« bildet.
So sehen Sieger aus?
Schon Dwight D. Eisenhower warnte in seiner Abschiedrede 1961 vor dem militärisch-industriellen Komplex. Nur wird das selten auf den Punkt gebracht und wissenschaftlich untermauert. Ein stramm konservativ gestylter Mainstream ist bestenfalls unangenehm berührt und übergeht das mit Schweigen.
Dabei zeigen sich die realen Verhältnisse, geht man ihnen auf den Grund, so voller Absurditäten, dass man sich fragt, was die bisherige Geschichtsschreibung uns eigentlich weismachen möchte. Läßt sich allen Ernstes von »kolonialem Besitz« reden, wenn, wie Dierk Walter zeigt, seinerzeit Togo, eine Region der Größe Bayerns plus Baden-Württembergs von sage und schreibe zweihundertfünfzig Polizeisoldaten »beherrscht« wurde? Oder wenn 1910 in ganz »Französisch«-Westafrika einschließlich des Kongo, einem Gebiet weit größer als Europa, schlappe dreizehntausend Soldaten stationiert waren? Kolonialer Besitz? Alles Lüge? Und was war denn nun bloß die reale Situation? Die britische Strafexpedition gegen die Cherokee 1760/61 verlief deshalb im Sande, weil für die Logistik nicht hinreichend gesorgt war. So sehen Sieger aus?
Die kleine Horde besiegt eine Übermacht
Für die Imperien, konstatiert Dierk Walter, sei es schwierig gewesen, einen »Konflikt an der Peripherie schnell und dauerhaft zu entscheiden«, ja selbst die Schwierigkeit, zu definieren, was eigentlich ein Krieg war, bestehe vielfach bis heute.
Dierk Walter dekonstruiert. Er zeigt, dass die so glorreiche Eroberung des Inka-Reiches – Pizarro habe mit hundertsechs Mann zu Fuß und zweiundsechzig zu Pferde eine professionell geführte Armee von hunderttausend Soldaten besiegt – ein amüsantes Narrativ war vom heldenhaften Sieg gegen eine unbeschreibliche Übermacht, »Leitthema des europäischen Triumphs in der Eroberung der Welt«. Es erweise sich real und nach präzisem Quellenstudium als geschickte Bündnispolitk im Kontext eines zerfallenden Inka-Reiches. Der erwähnte Mythos der einsamen Kämpfer sei propagandistisch gepflegt »und setzt sich noch in der Alltagskultur fort bis zum Western des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus«.
Erfrischender Wind in lastender Schwüle
In Brasilien sei es ebenfalls »ein erklärtes Patentrezept« gewesen, »eine Indianergruppe gegen die andere aufzuhetzen, um dann das Land der durch den Kampf geschwächten Verbündeten zu besetzen«. In anderen Regionen der Peripherie werde miltärisches Vorgehen durch politische Kriegführung ergänzt, deren Objekt die gesamte indigene Bevölkerung sei, ein Beispiel dafür sei die Einrichtung nordamerikanischer Indianerreservate im neunzehnten Jahrhundert.
Die Verschleppung etwa der ›Fünf Zivilisierten Stämme‹ Cherokee, Chickasaw, Choctaw, Muscogee und Seminolen in den 1830er Jahren auf dem berüchtigten ›Pfad der Tränen‹ ist nur ein weiteres von vielen Beispielen für Vertreibung und Zwangsumsiedlung, und mit der vorgeschobenen, wenn nicht propagandistischen Begründung »despotischer Unrechtsregimes« wurden die Machthaber bereits bei der Unterwerfung der Azteken 1519 und der Maya von Itza 1697 ausgewechselt; nichts anderes geschehe letztlich in Afghanistan und im Irak. Es ist erfrischend, mit dieser ernüchternd pragmatischen Perspektive von den verengten Blickwinkeln der Gegenwart befreit zu werden. Zeit für frischen Wind in lastender Schwüle.
Die Verhältnisse werden neu aufgerollt
Letztlich sei es immer darum gegangen, Fremdherrschaft in der Peripherie zu etablieren und abzusichern. Im Normalfall habe es sich um zeitlich nicht begrenzte Konflikte gehandelt, in denen Lösungen nur durch militärische Operationen de facto nicht möglich gewesen seien.
Er rollt die Verhältnisse neu auf, er kehrt uns die Begrifflichkeiten um und belegt überzeugend mit Fakten, auf deren Basis es plötzlich schwierig wird zu unterscheiden, wer die Wilden sind, wer die Zivilisierten. Er konstatiert einen langfristig »unbedingten Eroberungswillen der Imperien«, während die Kriegsziele indigener Gesellschaften »meist viel begrenzter« waren.
Die eigene Logik der Rachegewalt
Die Materie ist nicht kompliziert, man kann Dierk Walter folgen, er liefert eine detailreiche, sorgfältige, pragmatische Bestandsaufnahme, dass es wie Schuppen von den Augen fällt, man sieht unversehens klar, die Vergangenheit ordnet sich anders als man uns bislang glauben machen will, denn unverändert gehe es jahrhundertelang und noch heute, sei es in Afghanistan, sei es im Irak, um »die Durchsetzung von nationalen oder kollektiv westlichen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen«.
Aber immer wieder zieht er uns heraus aus diesen Klischees und zeigt, dass die Beweggründe im Einzelfall komplexer Natur sind; im Regelfall wurden etwa Siedler »zum gefährlichen Eskalationsmoment in Imperialkriegen«, sie waren »das ultimativ unkontrollierbare und mörderischste Element der imperialen Struktur«, und Rachegewalt löste Spiralen eskalierender Gewalt aus, eine »von rechtlichen oder menschlichen Bedenken praktisch unberührte Gewalt«. Walter erwähnt das Kampur-Massaker von 1857 in Indien, die Dekolonisationskriege der 1950er Jahre, Beispiele aus den Indianerkriegen, die bereits der »Logik einer präventiven Eliminierung einer rein potenziellen Gefahr« folgten, wie sie die Vereinigten Staaten mit der gezielten Tötung des Terrorismus lediglich verdächtigter Personen praktizieren.
Der Feind ist stets ein Barbar
Darüber hinaus verweist er auf eine ausgesprochen persönliche Ebene: »Offiziere und Beamte, die Schlagzeilen machen, sich durch Plünderung bereichern, ihre Karriere voranbringen wollten – im Krieg wird man schneller befördert; Generale und Gouverneure, die etwas zu beweisen hatten, weil sie neu im Amt waren, oder die sich umgekehrt unter dem Zwang fühlten, kurz vor ihrer bevorstehenden Abberufung noch schnell einen signifikanten Erfolg zu erringen; Abenteurer,« usw. usf. – auch diese »Sekundärmotive« haben erheblichen Einfluss auf die konkrete Gestalt kriegerischen Geschehens.
Walter unterscheidet abgestufte Aktionen der Zentralmacht, etwa Strafexpeditionen, Gehorsamserzwingung, Regimewechsel, Raub und Zerstörung. Diese Maßnahmen wurden überwiegend mit außerordentlicher Brutalität durchgeführt, die Gegner galten als »Wilde« oder »Heiden«, auf Kriegsvölkerrecht sei keine Rücksicht genommen worden. Dem Feind wurde Barbarei unterstellt, und es sei »notwendig geboten, jedes Kriegsmittel einzusetzen, um den Sieg davonzutragen«.
Ein Nasenstüber, ein Denkanstoß
Zur Logik der Kämpfe in der Peripherie gehört, daß die Gegner oft nicht an einer Uniform kenntlich werden. In Vietnam sei jeder tote Vietnamese zum Vietcong erklärt worden, und im Drohneneinsatz der Gegenwart zählten zivile Opfer als »Kollateralschaden«. Tatsache sei aber auch, daß überlegene Technologien wie etwa die Luftwaffe im Einsatz an der Peripherie nur begrenzt wirksam, geschweige denn erfolgversprechend seien.
Ein so pragmatischer und von jeglicher politischen Gefärbtheit freier Beitrag kann einer in Sachen Politik insgesamt bräsigen, verschlafenen Öffentlichkeit einen anregenden Nasenstüber versetzen, einen Denkanstoß geben; in jedem Fall ist diese Publikation ein origineller, vorwärtsweisender Ansatz für eine Geschichtswissenschaft, die sich neulich noch feuilletonistisch – immer wieder jeden Jahrestag, oh Gegenwartsbezug!, breit auswalzend – am Kriegsausbruch 1914 abarbeitete.
Titelangaben
Dierk Walter: Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion
Gestalt und Logik des Imperialkrieges
Hamburg: Hamburger Edition HIS 2014
414 Seiten. 32 Euro