/

Wie ein Schnellzug, der Wachstum und Wohlstand versprach

Gesellschaft | Philip Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent

Preisträger Preis der Leipziger Buchmesse 2015

Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks vor 25 Jahren fand gleichzeitig das politische und wirtschaftliche System des Kommunismus sein Ende. Die neoliberale Transformation, die daraufhin in Osteuropa einsetzte, sorgte in den Staaten jenseits des »Eisernen Vorhangs« für ganz unterschiedliche Entwicklungen. Der Historiker Philip Ther hat sie analysiert und daraus als Bilanz die neue Ordnung Europas gezogen. Von STEFFEN FRIESE

42461_Ther_U1Hatte der Neoliberalismus zunächst in den USA und Großbritannien in Form der »Reagonomics« und des »Thatcherismus« seine Anfänge genommen, gab es auch in einigen der planwirtschaftlich organisierten Staaten des Ostblocks Versuche, das ökonomische System zu öffnen. Als sich aber verdeutlichte, dass die reformistischen Bestrebungen der Kommunisten – allen voran Glasnost und Perestroika Gorbatschows – die Nachteile des bestehenden Systems nicht beseitigen konnten, war der Weg für die globale Hegemonie des Neoliberalismus geebnet.

Konvergente Entwicklung

Dem Trend folgend, prägte der Dreischritt aus Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung als Bestandteil des »besseren« Systems nach der Wende die wirtschaftlichen Reformen der Länder im Osten Europas. Ther beschreibt die Transformationen der einzelnen Staaten, deren Krisen und Resultate, und wie sich die Entwicklungen beispielsweise in Polen von denen im Baltikum unterschieden.

Trotz der ganz verschiedenen Umsetzungen der Reformen kam es in allen Ländern östlich der Oder-Neiße-Grenze zu ähnlichen Ergebnissen. Die Wirtschaft wuchs und näherte sich den Staaten der EU an, es entstand ein neuer Wohlstand, der allerdings nicht alle erreichte und die Kluft zwischen den reichen Städten und den armen ländlichen Regionen noch vergrößerte. Erst die Finanzkrise sorgte für das vorläufige Ende des Wachstums und stürzte auch die Staaten Osteuropas in eine tiefe Rezession.

Treffende Bilanz

Genauso klar und verständlich, wie er die Transformationen beschreibt, gelingt es Philip Ther die verschiedenen Aspekte und Folgen der Krise zu beleuchten. Er macht in seinen Betrachtungen der neoliberalen Entwicklungen in Osteuropa deutlich, dass die Veränderungen in einem Teil den Rest des Kontinents nicht unberührt lassen und dessen Staaten und Gesellschaften im Grunde wie »kommunizierende Röhren« funktionieren.

Die Ausführungen Thers, der eine Professur am Institut für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien innehat, helfen viele wirtschaftliche und politische Zusammenhänge besser zu verstehen. Besonders anschaulich macht er die Mechanismen des Neoliberalismus in Europa anhand einer Metapher, der des funkelnden Expresszugs, der Wachstum und Wohlstand versprach.

| STEFFEN FRIESE

Titelangaben
Philip Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent
Eine Geschichte des neoliberalen Europa
Berlin: Suhrkamp 2014
432 Seiten. 26,95 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

2 Comments

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Vom Schützengraben ins Rotlichtmillieu

Nächster Artikel

Ein aufschlussreicher Blickwinkel

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Zur Situation des Widerstands

Gesellschaft | Steffen Vogel: Europa im Aufbruch Steffen Vogel gibt einen kenntnisreichen Überblick über den Stand politischer Bewegungen in den Ländern Europas. Sein Interesse liegt auf dem Widerstand gegen die vorherrschende neoliberale Ausrichtung, »einen Kurs, der letztlich perspektivlos ist«. Vor allem in den südlichen Ländern sieht er starken Widerstand, während in nördlichen Ländern rechtspopulistische Kräfte an Einfluss gewonnen hätten. Von WOLF SENFF

Faktenlage der Geopolitik

Gesellschaft | Matthias Bröckers, Paul Schreyer: Wir sind die Guten Wenn sogar die ›Hamburger Morgenpost‹ sich nahtlos unter die Putin-Hassprediger fügt, bleibt keine andere Wahl, als nach einem informativen Buch zu greifen. Lesen Sie das erste Kapitel, und Sie werden sich wundern über jene nüchterne Logik, die dem Boulevard nicht der Rede wert ist, die in ›seriösen‹ Medien nicht zur Sprache kommt, die jedoch unverzichtbar ist, um die Situation jenseits von Rausch und Stammtisch einzuschätzen. Von WOLF SENFF

Eine Ahnung von Dunkelheit, ein unstillbares Heimweh

Kulturbuch | László F. Földényi: Lob der Melancholie

Wenn einer etwas zur Melancholie zu sagen hat, dann ist es der ungarische Geisteswissenschaftler László F. Földényi. In seinem neuesten Essayband versammelt er Gedanken zu melancholisch-metaphysischen Abgründen in Architektur, bildender Kunst und Film. Und überrascht dabei mit seinem Gespür für die Körperlichkeit der Melancholie, die »mehr ist als nur ein Gefühl.« Von JALEH OJAN

Vom Leben in der Stadt

Gesellschaft | Niels Boeing: Von Wegen. Überlegungen zur freien Stadt der Zukunft Die kapitalistische Stadt ist eine Stadt der Privilegien, die neue Stadt aber wäre, von Privilegien befreit, eine Stadt der Freiheit. Es ist schön, Alternativen vor Augen zu führen. Das öffnet den Blick auf diese reichlich dunklen, morbiden Zeiten, die alles darum geben, dass ja nur das Elend mittels Frohsinn und Party verkleidet bleibe. Niels Boeing richtet den Blick nach vorn, und seine Perspektive ist spannend. Von WOLF SENFF

Ein Kimono ist auch bloß ein Dirndl

Kulturbuch | Matthias Politycki: Schrecklich schön und weit und wild Verreisen ist zu einem Volkssport geworden. Sobald man aus der Haustür tritt, sieht man Menschen, die zumindest einen Rollkoffer hinter sich herziehen. Auch Matthias Politycki ist viel herumgekommen und fand es ›Schrecklich schön und weit und wild‹. Seine Kulturgeschichte des modernen Reisens beschäftigt sich mit der Frage: Was treibt uns eigentlich in die Ferne? INGEBORG JAISER folgt ihm gemütlich vom heimischen Sofa aus.