Gesellschaft | Gerhard Weigt: Demokratie Jetzt
Augenzeugenberichte sind nie einfach. Gefärbt von subjektivem Empfinden, beschränktem Informationszugang und Emotionen werfen sie ein Bild auf die Welt, das nicht korrekt sein muss. Zeitzeugen muss es ähnlich gehen. So entspinnt sich die Komplexität von Gerhard Weigts ›Demokratie Jetzt‹. Der schwierige Weg zur deutschen Einheit schon im Eingang, im Appell an die eigene Objektivität, die keine sein kann. Dennoch bleibt ein atemberaubendes Zeugnis eines starken Willens zum Widerstand. VIOLA STOCKER zollt Respekt.
Ein Schreibtischtäter verstummt vor Ehrfurcht. Denn in der Geschichte der Menschheit wiederholen sich ab und an Ereignisse. Die Menschenmassen, die vor bald dreißig Jahren durch die ostdeutschen Städte zogen, mäandern nun durch Warschau, Palästina, Washington, Istanbul oder wo immer Menschen meinen, für die Garantie ihrer Grundrechte kämpfen zu müssen. Bevor der erhobene Zeigefinger also das Werk eines Zeitzeugen zerpflückt, sollte respektiert werden, dass überhaupt die Möglichkeit bestand, aufgrund der eigenen Biographie solch ein Buch zu verfassen.
Historisches Umfeld
Gerhard Weigt ist es wichtig, nicht in der Mitte des Geschehens zu beginnen, sondern das sozioökonomische Umfeld genau zu schildern. Da er ausdrücklich auf eine wissenschaftliche Aufarbeitung verzichten möchte, ist auch dieses Kapitel aus persönlicher Rekapitulation gefärbt. Somit liest sich gleich der erste Teil am schwierigsten. Denn mittlerweile gibt es gute Monographien zum Thema Stalinismus und Diktatur in der DDR, die nach wissenschaftlichen Kriterien verfasst sind, sodass es tendenziell unnötig ist, die Thematik aus persönlicher Sicht noch einmal aufzubereiten.
Die Parallelen zu anderen Diktaturen überraschen immer wieder. Natürlich kann in einer Einparteiendiktatur die Opposition sich nicht öffentlich formieren. Hatten sich einzelne Intellektuelle oder Künstler gegen den Staat gewandt, waren sie mittels Inhaftierung oder Ausweisung mundtot gemacht worden. Ja, der Freikauf politischer Häftlinge war Teil des Devisenhandels geworden. Wollte man sich also für eine Verbesserung der politischen Verhältnisse einsetzen, war es wichtig, eine große Institution im Rücken zu haben und vorsichtig zu agieren.
Beginn der Opposition im kirchlichen Raum
Die Friedensbewegung bot einen solchen Rahmen und zwar auf teilweise internationaler Ebene. In Ost – und Westeuropa waren die Bevölkerungen aufgerüttelt durch den Kalten Krieg, den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und den NATO-Doppelbeschluss. Die Berliner Bischöfe stießen den Friedensprozess innerhalb der Kirche an, der mit der »Aktion Sühnezeichen« seinen Anfang nahm. Zugleich ging der Blick der Engagierten in Richtung des polnischen Nachbarn, der früh eine politische Opposition aus der kirchlichen Friedensbewegung entwickelte und sehr gut organisiert war.
Macht man sich bewusst, dass erst ab 1989 von der Bürgerbewegung »Demokratie Jetzt« gesprochen wird, wird deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmung im In- und Ausland war. Weigt legt Wert darauf, zu zeigen, dass erst durch die zunehmende Vernetzung Einzelner im geschützten kirchlichen Raum und in der Friedensbewegung ein Gefühl der Dringlichkeit für politische Opposition entstanden war. Entsprechend bewegend liest sich seine Analyse der Geschehnisse, die in einer Diktatur nur ex post vorgenommen werden konnte.
Mittels Synodalanträgen gelang es den aktiven Christen, politische Themen immer wieder auf die Tagesordnungen kirchlicher Tagungen zu setzen und so Öffentlichkeit zu schaffen. Doch erst nach – wohlgemerkt nur eingeschränkter – Einsichtnahme in betreffende Akten der Staatssicherheit und nach Sichtung persönlicher Aufzeichnung der Beteiligten und brieflicher wie telefonischer Befragung konnte Weigt ein gewisses Maß an Vollständigkeit erreichen. Es wäre für Weigt gewiss wünschenswert gewesen, hier auf ein wissenschaftliches Team und entsprechende Arbeitsweisen zurückgreifen zu können.
Reaktion auf Fehler des Parteiapparats
Immer wieder wird ersichtlich, dass das politische Handeln der Friedensbewegung ein reaktives Handeln war. Vorausgehend waren meist staatliche Fehlentscheidungen, die geradezu nach Opposition schrien. An zahlreichen Stellen wird auf briefliche Quellen hingewiesen oder die Arbeit der Synodalen hervorgehoben, die auf staatliche Maßnahmen reagieren. Weigts Darstellung verbleibt ein Zwitterwesen – zu objektiv, um die Neugier der Leser am Schicksal der Beteiligten zu befriedigen und zu subjektiv, um einen allgemeingültigen Anspruch zu haben.
Als am 7.Mai 1989 die organisierte Opposition die Regierung der Wahlfälschung überführt, geraten die Geschehnisse in Bewegung. Auch Weigts Darstellung nimmt an Fahrt auf. Verzettelt sich der Autor zuvor manchmal auch in seiner peniblen Analyse der Ereignisse und bleibt auch Raum für die Bewunderung der äußerst engagierten und organisierten Opposition in Polen, ab dem Frühling 1989 überschlagen sich die Ereignisse und man merkt dem Zeitzeugen Weigt an, wie überrascht und überfordert die Opposition teilweise war, als es galt, tagesaktuell zu handeln.
Der Weg aus dem geschützten Raum in die Öffentlichkeit
Man kann bei der Lektüre nur ahnen, welchen individuellen Gefahren sich jedes einzelne Mitglied von »Demokratie Jetzt« in dem Augenblick ausgesetzt hat, in dem die Gruppe beschlossen hat, öffentlich zu agieren. Die Flugblätter und Aufrufe sind namentlich unterschrieben, man musste davon ausgehen, dass die Staatssicherheit stets informiert war und bereit, einzelne Mitglieder aus dem Verkehr zu ziehen.
Auf dem Mut Einzelner gründete das Vertrauen einer ganzen Nation. Ohne die politischen Umwälzungen in Osteuropa und der Sowjetunion wäre es sicherlich schwieriger für die Beteiligten gewesen, sich für Veränderungen einzusetzen. Es ist aber das große Verdienst Gerhard Weigts, gezeigt zu haben, dass die Opposition längst da war, noch vor den Veränderungen in Ungarn und der UdSSR. Aus Archiven und von Privatleuten sind Fotos aus der Zeit eingefügt, die die Stimmung der Tage zwischen August 1989 und der Jahreswende einfangen. Während das System hilflos zusehen musste, wie über den Bruderstaat Ungarn Zehntausende ausreisten, wurde der Wille der Zurückbleibenden zum dringendsten Problem.
Der Wille zum Aktivismus
›Demokratie Jetzt‹ formte sich, gemeinsam mit anderen Oppositionsgruppen, in dieser stürmischen Zeit. In einer Diktatur ohne eine Kultur der demokratischen politischen Willensbildung zeigten sich rasch Möglichkeiten und Beschränkungen der Aktionen. Während es an politischer Vernetzung mangelte, weil viele ihr eigenes Programm durchsetzen wollten, boten sich die Chancen, einen Staat nach Art einer griechischen Polis neu zu gründen. Wie eingeschränkt damals demokratische Teilhabe war, wurde freilich ignoriert und auch die Tatsache, dass Interessenvertretung, Koalitionen und ein professioneller Politbetrieb nichts Anrüchiges per se waren.
Während also ›Demokratie Jetzt‹ viele Menschen für Veränderungen interessieren konnte, gelang es nicht, ein politisches Programm zu formulieren, das für die Transformation der DDR geeignet war. Der Höhepunkt der Macht der Bürgerbewegungen war zugleich ihr politischer Niedergang. Weigt erkannte früh, dass man sich auch dem institutionalisierten Politbetrieb der BRD angleichen musste, während andere Mitglieder der Gruppe hofften, mittels eines neuen Politikverständnisses eine Art bessere BRD gründen zu können, in der die kommunistischen Forderungen der DDR auf demokratische Weise ihren Niederschlag finden. An der Bevölkerung, die an einem Fortbestehen der DDR keinerlei Interesse mehr hatte, war das wohl vorbei gedacht und so sind die schlechten Wahlergebnisse für ›Demokratie Jetzt‹ auch Zeugnis dafür, den Wählerwillen nicht erkannt zu haben. Leider verblasst durch das klanglose Ende die Leistung der Opposition und es ist Gerhard Weigt zu verdanken, dass daran erinnert wird.
Titelangaben
Gerhard Weigt: Demokratie Jetzt. Der schwierige Weg zur deutschen Einheit
Leipzig: EVA 2015
520 Seiten, 29,90 Euro
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