/

Ein aufschlussreicher Blickwinkel

Gesellschaft | Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015

Exakt, gelegentlich fehlen uns die Worte. Immer häufiger fehlen sie uns, die richtigen Worte. Joseph Vogl, jener Literaturwissenschaftler, der im Jahr 2010 mit seinem ›Gespenst des Kapitals‹ erfolgreich war und von dem wir annehmen, dass gerade er weder Ökonomielatein noch Politiksprech formuliert, spricht im Kontext der Finanzkrise lapidar von einem »Staatsstreich« und einem neuen »finanz-ökonomischen Regime«. Von WOLF SENFF

SouveränitätseffektJoseph Vogl sucht zu klären, welche Rolle die Ökonomie im Rahmen von Regierungstätigkeit spielt. Er findet an der Schwelle zur Moderne erstmals bei Rousseau den Begriff der politischen Ökonomie synonym verwendet für die Gesamtheit der gouvernementalen Praktiken und Gegenstandsbereiche.

Das neoliberale Projekt

Erkennbar werde frühzeitig als »Konfiguration neuzeitlicher Politik« eine »spezifische Verdoppelung des politischen Körpers«, und zwar einerseits in »dem juridischen Format souveräner Gewalt«, andererseits in einer »politökonomischen Regierungspraxis«.

Der Liberalismus habe das ökonomische Feld stets als ein geschlossenes System verstanden, der Neoliberalismus setze dieses gegenwärtige Projekt so fort, dass »einer mehr oder weniger harmlos gewordenen Volkssouveränität […] die Verallgemeinerung der Marktfunktion gegenüber[steht]«. Regierungshandeln richte sich heute darauf, den Menschen den jeweiligen Erfordernissen des Kapitals zu unterwerfen.

Staatliche Verschuldung

Joseph Vogl zeichnet auch die Formierung staatlicher Souveränität nach, so in der Herausbildung eines regulären Steuersystems. Jedoch formiere sich im Finanzbereich – Vogl zeigt das am Beispiel der Börse von Lyon Mitte des sechzehnten Jahrhunderts und des Finanzsystems in Genua bzw. der oberitalienischen Städte – ein »Souveränitätsreservat eigener Ordnung«.

Mit der Gründung der privaten Bank of England 1694 sei endgültig eine Verstetigung und Expansion von Finanzmärkten erreicht worden, »die sich durch die Verschränkung von Regierungsstrukturen und Marktdynamik, durch die administrative Bewerkstelligung eines Verbunds aus hoher Steuerlast, Fiskalschuld und Unternehmertum auszeichnet«. Die staatliche Verschuldung sei zuverlässiger Garant für den Reichtum und Einfluss der Privatleute, für die »dauerhafte Einbindung von Staatsgläubigern in den politischen Apparat«. Bald seien neue Kapitalmärkte entstanden und »eine Art ›investierender Öffentlichkeit‹«.

Eine ›Kultur des Kredits‹

Nein, wir lesen keine Geschichte der Klassenkämpfe. Das ist nicht das Thema. Joseph Vogl stellt uns in einer überaus sorgfältigen Arbeit die verwickelten Prozesse der Ausübung und Formierung von Herrschaft dar, die mit der Allerweltsfloskel ›Geld regiert die Welt‹ zutreffend, jedoch nur nichtssagend zusammengefasst wäre. Irgendwie kommt alles zusammen. Man betet wieder das Goldene Kalb an.

Für Vogl stellt sich die Integration privater Investoren in die Regierung als Existenz einer »Exekutivmacht eigener Qualität«, als eine »Vierte Gewalt« dar, und man staunt, dass die ›Kultur des Kredits‹ zum »großen Band der Gesellschaft« hochgelobt und als »nationales Gut« gepriesen wurde.

»Marktkonforme Demokratie«

Die Etablierung nationaler, niemandem rechenschaftspflichtiger, im unerreichbaren Niemandsland siedelnder Zentralbanken kennzeichne den Machtzuwachs des Finanzsystems, in den USA seit 1913 durch das hoch komplizierte Federal Reserve System, dem eine »ominöse öffentlich-private Zweiseitigkeit« zugrunde liege, in Deutschland die Bundesbank 1949/1957, in Chile seitens der Diktatur vor den Neuwahlen 1989 noch kurzfristig etablierten Zentralbank; aufgrund der internationalen Verflechtung der Finanzmärkte sei, wie der vergebliche Versuch Venezuelas 1994 zeige, eine Modifizierung des Zentralbankstatuts nahezu ausgeschlossen.

Die Agenda der Krisenpolitik werde heutzutage vom Finanzregime und von dessen Gläubigerinteressen diktiert. Eine kapitalistische Schulden- und Kreditökonomie garantiere, dass sich »soziale Ordnung nach den Mechanismen der Marktwirtschaft konstituiert und einen Möglichkeitsraum für das Überleben des Kapitalismus schafft«, konkret: Daseinsvorsorge, Altersrenten, Spareinlagen, medizinische Versorgung, Ausbildung, Arbeitsleben sind untrennbar an die Risikolagen des Finanzsystems gebunden. Dem entspricht Angela Merkels »marktkonforme Demokratie«, an deren endgültiger Realisierung die Große Koalition hierzulande zielstrebig arbeitet.

Griechenland als Beispiel

Es bleibt völlig unbegreiflich, dass Politik sich aus der Entscheidungsmacht zurückzieht und wichtige eigene Positionen aufgibt. Das begann schon mit dem Verzicht auf Steuergelder. Geld ist Macht, wer wüsste das nicht, und wer böswillig ist, würde sagen, da säßen Memmen und Feiglinge in einst wichtigen Ämtern. Aber vielleicht ist das übertrieben und man soll keine Vorurteile züchten. Gut, es ist allemal starker Tobak. Joseph Vogl wirft einen originellen und aufschlussreichen Blick auf transnationale Machtstrukturen, seine Darstellung überzeugt. Gleich auf den ersten Seiten fällt das schwerwiegende Wort vom Staatsstreich. Aber vielleicht sind wir nur das offene Wort nicht mehr gewohnt.

Denn politische Entschlüsse werden tatsächlich oft »in einer allgemeinen Notstandsmentalität« gefasst, »unter dem Druck finanz-ökonomischer Zwangslagen« gibt man »demokratische Gepflogenheiten« preis, das ist etwas sachdienlicher formuliert, und wer wollte das bestreiten – der Umgang mit Griechenland ist bestes Beispiel.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt
Zürich, Berlin: diaphanes 2015
320 Seiten, 24,95 Euro

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wie ein Schnellzug, der Wachstum und Wohlstand versprach

Nächster Artikel

Rede als praktizierte Macht

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Bildgewaltiges Glanzstück

Gesellschaft | Katherine Boo: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben In Annawadi, einem Slum in Mumbai, leben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und die Angst vor dem endgültigen existenziellen Ruin dicht beinander. Neid, Korruption und ethnische Konflikte bestimmen den Alltag. In Ihrer bewegenden Reportage Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben schildert Katherine Boo eingängig die Lebensumstände in einem indischen Elendsviertel. Von MARC STROTMANN

Die Deutungshoheit über »Verschwörungen«

Gesellschaft | Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft Der französischer Soziologe Luc Boltanski veröffentlichte im Jahr 2003 mit Eve Chiapello Der neue Geist des Kapitalismus. Sein neues Werk spielt eine andere Melodie, er knüpft an Methoden der Literatursoziologie an, an Lucien Goldmann und Pierre Bourdieu, die auf der Grundlage der Abbildtheorie von Literatur und Gesellschaft sich der Ästhetik literarischer Werke zuwandten. Luc Boltanski widmet sich dem Genre Kriminalroman/Spionageroman – ein vielversprechender Ansatz. Von WOLF SENFF

Unruhe in Europas Hinterhof

Gesellschaft | Marc Engelhardt: Heiliger Krieg – heiliger Profit Vor Somalia ist die Bundesmarine präsent, in Darfur und im Südsudan die Bundeswehr zu Land, seit neuestem auch in Mali. Geht es nach Frau von der Leyen wird sie demnächst auch in der Zentralafrikanischen Republik aktiv werden. Warum das am Ende sogar nötig sein könnte, will uns Marc Engelhardt in »Heiliger Krieg, heiliger Profit« sagen. Von PETER BLASTENBREI

Anwesende Abwesenheit

Gesellschaft | Inge Jens: Langsames Entschwinden Als der große Denker und Rhetorikprofessor Walter Jens an Demenz erkrankte, war die Krankheit noch weitgehend mit einem Tabu belegt und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit wenig präsent. Auch Inge Jens musste erst lernen, nach und nach mit der Diagnose und dem wachsenden Einschränkungen ihres Ehemannes umzugehen. ›Langsames Entschwinden‹ vereint eine Sammlung ausgewählter Briefe aus acht Jahren mit einem mutigen und klugen Plädoyer für eine angemessene Pflegesituation. Von INGEBORG JAISER

Im Rausch des Fortschritts

Gesellschaft | Nils B. Schulz: Gedanken zur Dequalifizierung des Lehrers Wie schön, sind ›wir‹ mal wieder Weltmeister. Das hörst du gern, da steigt Begeisterung hinauf bis in die Ohren und färbt sie glühend rot. Mit siebenunddreißig Prozent, so sagt die Nachrichtenseite, hat Deutschland weltweit den höchsten Anteil Hochschulabsolventen in den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – na bitte. Von WOLF SENFF