Jugendbuch | Susan Juby: Der Tag, als wir begannen, die Wahrheit zu sagen
»Sag die Wahrheit« lautet die Devise von Dusk, Neil und Normandy. Mit ihrem »Wahrheitsprojekt« wagen die drei Elftklässler als selbsternannte Wahrheitskommission ein Experiment, das schon bald aus dem Ruder zu laufen droht. Von ANDREA WANNER
Der Anlass ist der neue Look einer Mitschülerin nach den Sommerferien. Fasziniert beobachtet Norm gemeinsam mit ihren beiden Freunden, der ewig kritischen Dusk und dem Witzbold Neil am ersten Schultag Aimee, die »über den Sommer ein paar Renovierungsarbeiten an sich« hatte vornehmen lassen: Aimee verfügt nach einer Schönheits-OP über eine neue Nase und neue Brüste. Tatsächlich traut sich Neil, das Mädchen darauf anzusprechen.
Und diese erste Suche »nach der Wahrheit«, ist Gründungsstunde der Wahrheitskommission, die von da an den persönlichsten Geheimnissen der Mitschüler der Green-Pastures-Akademie für Kunst und angewandtes Design auf den Grund zu gehen versuchen. Die drei fragen nach sexuellen Neigungen, familiären Problemen und privaten Dingen. Mit den Antworten gehen sie diskret um, die Wahrheitssuche soll allein der Befreiung der Befragten dienen. Auf diese Art sollen sie sich ihren Schwierigkeiten stellen und Lösungen finden. Drei Weltverbesserer eben.
Was den Roman der kanadischen Autorin Susan Juby so lesenswert macht, ist der Kunstgriff, mit dem die Geschichte aus der Sicht der Zurückhaltendsten der drei Freunde, Norm, erzählt wird. Norm macht im Rahmen eines Projektes aus den Erlebnissen einen Essay, der von einer Dozentin für kreatives Schreiben betreut wird. Kapitel um Kapitel schildert sie die Ereignisse, kommuniziert über die eingefügten Fußnoten mit ihrer Lehrerin, fügt Querverweise zu anderen Autoren und deren Werken ein. Das hemmt zwar den gewohnten Lesefluss, schafft aber auf höchst originelle Weise Distanz und Reflexionsmöglichkeiten.
Kann man das so formulieren? Sind die Gefühle richtig beschrieben? Norm kommentiert ihre eigenen Schreibversuche, reagiert auf die Korrekturen in Grün der Lehrerin und durchläuft einen schriftstellerischen Lernprozess, der viel von dem verrät, wie Schreiben funktioniert. So dient die eigentliche Handlung an manchen Stellen deutlich nur als Anlass für die Schreibübung.
Trotzdem gibt es reichlich Handlung. Freilich an manchen Stellen nur angerissen, mit viel Personal und Schicksalen, die eigene Bücher wert wären. Die Wahrheit ist eben nicht so leicht zu fassen, wie sich die Drei das vorgestellt hatten. Vor allem muss sich Norm fragen lassen, wie es denn in ihrem eigenen Leben damit aussieht. Und so gerät ihr Essay über die Wahrheitssuche bei den anderen zu einem neuen Blick auf ihr eigenes Leben. Das ist schwierig genug, denn ihre ältere, als Zeichnerin von Graphic Novels berühmte Schwester verwendet die eigenen Familienmitglieder als grotesk überzeichnete Comicfiguren. Wie kommt Normandy damit klar? Und was ist ihrer Schwester geschehen, die plötzlich aus dem College zurückkehrt, zu Hause einzieht, dann wieder tagelang verschwindet. Auch hier macht sich Norm auf die Suche nach der Wahrheit.
Die Wahrheit hat viele Gesichter. Das klingt platt, aber so wie in diesem Jugendbuch nach den verschiedenen Wahrheiten gesucht wird, wird es spannend und klug.
Titelangaben
Susan Juby: Der Tag, als wir begannen, die Wahrheit zu sagen
(The Truth Commission, 2015)
Aus dem Englischen von Eva Hierteis
München: cbj 2015
352 Seitenm 16,99 Euro
Jugendbuch ab 14 Jahren
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