Ein paar Worte zum sozialverträglichen Verhalten

Kinderbuch | Sigrid Zeevaert: Annabel und Anton. Tür an Tür in Nr. 9

Es gab eine Zeit, da wurde viel von Benehmen gesprochen und darunter verstand man nicht bloß Tischmanieren, sondern ein anständiges Miteinander. Da das in den Ruf geriet, völlig verstaubt zu sein, wurde der Begriff in »sozialverträglich« umgetauft. Das als wesentliche Grundlage für eine Kindergeschichte zu nehmen, ist immer noch ein Wagnis, wer will schon verstaubt sein? Sigrid Zeevaert ist das Wagnis eingegangen und präsentiert ein paar Worte zum sozialverträglichen Verhalten frisch, herzlich und überzeugend. Von MAGALI HEISSLER

AnnabelAnnabel ist die Große. Manche mögen das für einen Vorteil halten, aber Annabel bestimmt nicht. Nicht mit zwei kleinen Brüdern, die noch nicht einmal zur Schule gehen! Den ganzen Tag dürfen sie spielen, Annabel dagegen soll vernünftig sein. Immer muss sie aufräumen, helfen, freundlich sein. Die kleinen Brüder dürfen frech und laut sein. Dabei wollte Annabel nicht einmal Brüder, Schwestern wären ihr viel lieber. Aber sie wurde ja nicht gefragt. Überhaupt fragt keiner, was sie will. Nicht einmal Katze Alibaba hört auf sie. Am besten wandert sie aus, schlimmer als zu Hause kann es nicht werden.
Aber Afrika ist weit weg. Und wenn die Wohnung nebenan plötzlich wieder bewohnt ist, muss man unbedingt feststellen, wer dort haust. Dass es ausgerechnet ein Junge in Annabels Alter ist und schon wieder kein Mädchen, ist ja wohl obergemein. Oder vielleicht doch nicht?

Ich und die anderen

Annabel mit ihren vielleicht sieben, acht Jahren steht vor einem Problem, mit dem sich kleine Leserinnen umgehend zurechtfinden. Sie beansprucht Raum für sich und ihre Wünsche, stößt aber überall auf Grenzen. Ihr »Ich« wird durch die anderen eingeschränkt. Annabel reagiert mit Zorn und Trotz, sie fühlt sich beraubt. Alle sind lästig, alle sind gemein, Flucht scheint die einzige Lösung. Ihre Flucht, das schildert Zeevaert sehr geschickt, führt nicht weit. Vor allem führt sie nur zu noch größerer Einsamkeit. Und zu einem aufgeschlagenen Knie. Die kleine Heldin bewältigt beide Erfahrungen allein, sie wächst an dieser Lehre, die einer das Leben eben so erteilt.
Den Zuwachs im Haus beäugt sie dennoch voll Misstrauen. Freundlich sein steht nicht auf ihrer Liste.

Ihre kleinen Brüder sehen das anders, sie sind so jung, dass unbefangenes Aufeinanderzugehen noch ganz natürlich erscheint. So kommt Anton in die Familie.

Anton ist anders, er ist ruhig und nachdenklich. Vor allem versteht er schon, was es heißt, auf andere einzugehen. Da warten noch ein paar Lehren auf Annabel. Interessant gezeichnet sind auch Annabels Eltern. Als beim Toben etwas zu Bruch geht, muss es selbstverständlich ersetzt werden. Geld ist hier aber keine Lösung. Dafür wird den Kindern, den kleinen und ganz kleinen, die Aufgabe gestellt, etwas für andere zu tun.
Die Alltagsabenteuer, die daraus entstehen, sind Stoff für viel Lesespaß, aber auch für Einsichten nicht nur bei Annabel. Das Ich und die anderen bewegen sich aufeinander zu.

Turbulenter Kinderalltag

Bei allem Trotz ist Annabel ein freundliches und liebenswertes Kind. Sie ist nur in einer Entwicklungsphase, sie wird eben älter. Im Kontakt mit anderen gibt sie ihrer Neugier nach, entdeckt dabei aber auch Welten, die ihr fremd waren. Sie überwindet Berührungsängste und stellt fest, dass die Wirklichkeit zuweilen weniger schlimm ist als die Vorstellungen davon. Die ewig schimpfende Nachbarin entpuppt sich zum Beispiel als interessante Frau, deren Vergangenheit gleich Annabels Träume von ihrer eigenen Zukunft anregen.

Anton ist Vorbild, aber auch Quelle für eine notwendige Horizonterweiterung. Er ist auch Quelle für ein neues Gefühl, das sich in Annabel breitmacht, eine erste Verliebtheit. Benennen kann sie es nicht und es hat auch nichts mit dem Liebes-Hin und Her der bewunderten Babysitterin Lena zu tun. Es ist einfach ein zum ersten Mal gezielt nach außen gerichtetes tieferes Gefühl für jemand, der in ihren Augen etwas Besonderes ist.

Zeevaert schildert das fast nebenbei unter all den Geschehnissen eines turbulenten Kinderalltags zwischen Schule, Geschwisterrangeleien und kleinen Abenteuern etwa wegen des verschwundenen Dackels eines alten Nachbarn.

Es ist Annabels Geschichte, auch wenn Anton von nun an eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen wird. Annabel hat sich verändert, statt des trotzigen kleinen Mädchens vom Anfang, das nur fort will, schläft am Ende ein etwas größer gewordenes kleines Mädchen voller Zuneigung für seine Gegenüber ein.

Die ganze Herzlichkeit der Geschichte hat Eva Muszynski in ihren Schwarz-Weiß-Zeichnungen eingefangen. Kinder, Erwachsene, Katzen, aus der Bahn fliegende Carrera-Autos, Puppe und Teddybär werden damit doppelt lebendig. Das Anschauen dieses Buchs ist genau so schön wie das Lesen.

| MAGALI HEISSLER

Titelangaben
Sigrid Zeevaert: Annabel und Anton. Tür an Tür in Nr. 9
Mit Bildern von Eva Muszynski
Hildesheim: Gerstenberg 2015
125 Seiten. 12,95 Euro. Kinderbuch ab 7 Jahren

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