Lite Ratur | Wolf Senff: Herzschlag
Nein, weshalb solle er sich Sorgen machen, er sei nicht hysterisch. Dass sein Arzt sich schwertue, seinen Puls zu finden, sei nicht sein Problem. Die in chinesischer Medizin spezialisierten Ärzte übertrieben ihre Diagnose am Puls, einer wie der andere. Sie würden bekanntlich an drei verschiedenen Positionen messen, alle drei am Handgelenk, nein, sage er sich, er habe keinen Grund, sich zu sorgen, kein bisschen.
Was ein schwaches Herz sei, frage er sich manchmal, weshalb spüre er seinen Herzschlag nicht, ein Herz solle schlagen, so heiße es schließlich, aber von Schlagen könne bei seinem Herzen keine Rede sein. Wenn er doch nicht einmal den Puls spüre. Nein, Sorgen bereite ihm das nicht, er habe keine Schwindelanfälle oder so etwas, außer dass er einmal ohnmächtig geworden sei, er erinnere sich, also richtig in Ohnmacht gefallen, zusammengeklappt, ja, bewusstlos.
Er habe nichts gemerkt, das sei von jetzt auf sofort geschehen, er wisse gar nicht, wie das im Einzelnen verlaufen sei, jedenfalls habe er sich nicht verletzt, nicht einen Kratzer, sein Nebenmann habe ihn aufgefangen, habe aufmerksam reagiert, er sei später Apotheker geworden, ihn besuche er heute manchmal. Nein, davon würden sie nicht reden, das sei eine Lappalie gewesen, längst abgehakt, das sei auf einer Klassenreise geschehen, vor Ewigkeiten, nach einer halben Minute sei er wieder bei Bewusstsein gewesen.
Neunte Klasse sei das gewesen, in einer Kirche in Fulda, es habe an der verbrauchten Luft gelegen, doch genau wisse man’s nicht. Sie hätten im Eingangsbereich gestanden, sagte er, und man mache sich so seine Gedanken und frage sich natürlich, ob man ein schwaches Herz habe, Kreislaufschwäche. Nein, sein Blutdruck sei normal, an den Blutwerten gebe es nichts auszusetzen, aber das sei eben wie seinerzeit in der Kirche, das treffe einen unvorbereitet, man merke nichts, und schon sei man ohnmächtig.
Oder Herzrhythmusstörung. Herzflimmern zum Beispiel sei eine Herzrhythmusstörung, das lasse sich nachlesen, was wisse der Mensch nicht alles, sie trete vorübergehend auf oder chronisch und könne Anzeichen für Herzinsuffizienz sein, könne man ebenfalls nachlesen oder morgens im Radio, er glaube dienstags, würden jede Woche zwei Stunden mit Krankheiten gesendet, Fachärzte und Professoren tauschten Erfahrungen aus, da hätten sie auch schon mal das Herz am Wickel, und Herzflattern, genauer Vorhofflattern, ja das Herz habe einen Vorhof, könne zu Herzrasen führen, man dürfe das keineswegs auf die leichte Schulter nehmen, und selbst bei einer simplen Grippe rate der Arzt zu Vorsicht, da der Virus möglicherweise auf einen Herzmuskel übergreife und in diesem Fall langwierigen Ärger mit dem Herzen verursache. Viren, sexuell übertragbare Papillomaviren, habe er kürzlich gelesen, können auch bei Männern Krebs auslösen, doch werde jedenfalls das Herz davon nicht tangiert.
Meine Güte das Leben sei kompliziert, mag glaube es kaum, nein, sagte er, er habe sich an den Hörerbeiträgen bisher nicht beteiligt, man könne aber anrufen oder eine E-mail schreiben, jeder könne das tun, ja, die Antworten seien sachdienlich.
Ach, keine Ahnung, sagte er, und es klang durchaus besorgt, jedenfalls spüre er seinen Herzschlag nicht. Nur selten, zum Beispiel im Liegen, merke er den Puls in den Händen, auch in den Füßen poche es kaum wahrnehmbar, nein man höre es nicht, wo denken Sie hin, sagte er, doch dass sein Herz schlage, würde er nicht sagen. Das sei ungewöhnlich, oder? Ich meine, sagte er, wenn das Herz nicht mehr schlage, wäre das ein ernsthafter Grund, sich Sorgen zu machen, finden Sie nicht?
Er dramatisiere? Entstehe der Eindruck, er werde hysterisch? Sehen Sie, so sei es, sagte er, wenn man sich bedrängt fühle, weil man fürchte, dass einen der Körper im Stich lasse, oder schon gar das Herz, ein Herz sei eben wichtig, das müsse man ja wissen. Nein er spüre es nicht. Darüber denke er gelegentlich nach, das dürfe doch erlaubt sein.