Herzschlag

Lite Ratur | Wolf Senff: Herzschlag

Nein, weshalb solle er sich Sorgen machen, er sei nicht hysterisch. Dass sein Arzt sich schwertue, seinen Puls zu finden, sei nicht sein Problem. Die in chinesischer Medizin spezialisierten Ärzte übertrieben ihre Diagnose am Puls, einer wie der andere. Sie würden bekanntlich an drei verschiedenen Positionen messen, alle drei am Handgelenk, nein, sage er sich, er habe keinen Grund, sich zu sorgen, kein bisschen.

Foto: Lukas Riebling
Foto: Lukas Riebling
Was ein schwaches Herz sei, frage er sich manchmal, weshalb spüre er seinen Herzschlag nicht, ein Herz solle schlagen, so heiße es schließlich, aber von Schlagen könne bei seinem Herzen keine Rede sein. Wenn er doch nicht einmal den Puls spüre. Nein, Sorgen bereite ihm das nicht, er habe keine Schwindelanfälle oder so etwas, außer dass er einmal ohnmächtig geworden sei, er erinnere sich, also richtig in Ohnmacht gefallen, zusammengeklappt, ja, bewusstlos.

Er habe nichts gemerkt, das sei von jetzt auf sofort geschehen, er wisse gar nicht, wie das im Einzelnen verlaufen sei, jedenfalls habe er sich nicht verletzt, nicht einen Kratzer, sein Nebenmann habe ihn aufgefangen, habe aufmerksam reagiert, er sei später Apotheker geworden, ihn besuche er heute manchmal. Nein, davon würden sie nicht reden, das sei eine Lappalie gewesen, längst abgehakt, das sei auf einer Klassenreise geschehen, vor Ewigkeiten, nach einer halben Minute sei er wieder bei Bewusstsein gewesen.

Neunte Klasse sei das gewesen, in einer Kirche in Fulda, es habe an der verbrauchten Luft gelegen, doch genau wisse man’s nicht. Sie hätten im Eingangsbereich gestanden, sagte er, und man mache sich so seine Gedanken und frage sich natürlich, ob man ein schwaches Herz habe, Kreislaufschwäche. Nein, sein Blutdruck sei normal, an den Blutwerten gebe es nichts auszusetzen, aber das sei eben wie seinerzeit in der Kirche, das treffe einen unvorbereitet, man merke nichts, und schon sei man ohnmächtig.

Oder Herzrhythmusstörung. Herzflimmern zum Beispiel sei eine Herzrhythmusstörung, das lasse sich nachlesen, was wisse der Mensch nicht alles, sie trete vorübergehend auf oder chronisch und könne Anzeichen für Herzinsuffizienz sein, könne man ebenfalls nachlesen oder morgens im Radio, er glaube dienstags, würden jede Woche zwei Stunden mit Krankheiten gesendet, Fachärzte und Professoren tauschten Erfahrungen aus, da hätten sie auch schon mal das Herz am Wickel, und Herzflattern, genauer Vorhofflattern, ja das Herz habe einen Vorhof, könne zu Herzrasen führen, man dürfe das keineswegs auf die leichte Schulter nehmen, und selbst bei einer simplen Grippe rate der Arzt zu Vorsicht, da der Virus möglicherweise auf einen Herzmuskel übergreife und in diesem Fall langwierigen Ärger mit dem Herzen verursache. Viren, sexuell übertragbare Papillomaviren, habe er kürzlich gelesen, können auch bei Männern Krebs auslösen, doch werde jedenfalls das Herz davon nicht tangiert.

Meine Güte das Leben sei kompliziert, mag glaube es kaum, nein, sagte er, er habe sich an den Hörerbeiträgen bisher nicht beteiligt, man könne aber anrufen oder eine E-mail schreiben, jeder könne das tun, ja, die Antworten seien sachdienlich.

Ach, keine Ahnung, sagte er, und es klang durchaus besorgt, jedenfalls spüre er seinen Herzschlag nicht. Nur selten, zum Beispiel im Liegen, merke er den Puls in den Händen, auch in den Füßen poche es kaum wahrnehmbar, nein man höre es nicht, wo denken Sie hin, sagte er, doch dass sein Herz schlage, würde er nicht sagen. Das sei ungewöhnlich, oder? Ich meine, sagte er, wenn das Herz nicht mehr schlage, wäre das ein ernsthafter Grund, sich Sorgen zu machen, finden Sie nicht?

Er dramatisiere? Entstehe der Eindruck, er werde hysterisch? Sehen Sie, so sei es, sagte er, wenn man sich bedrängt fühle, weil man fürchte, dass einen der Körper im Stich lasse, oder schon gar das Herz, ein Herz sei eben wichtig, das müsse man ja wissen. Nein er spüre es nicht. Darüber denke er gelegentlich nach, das dürfe doch erlaubt sein.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kopper wieder im Fiat

Nächster Artikel

Man nehme …

Weitere Artikel der Kategorie »Lite Ratur«

Stille Nacht

Lite Ratur | Wolf Senff: Krähe Du machst rein gar nichts zu Weihnachten? Hm. Du könntest Kerzen aufstellen in deinem Schlafbaum, dann hätten die anderen auch etwas davon. Gut, wenn es regnet, wird es schwierig. Oder wenn es windig ist – und windig kommt vor im Dezember. Dann müsstest du halt jemanden abstellen, der mit Streichhölzern umherfliegt.

Türen, nein,

Lite Ratur Meine Erfahrung mit Türen ist gleich null. Daß ich mit der Tür ins Haus falle, kommt vor, so bin ich, darüber rede ich selten, vor einigen Jahren hielt ich mich in Florenz auf, ich war von Genua aus mit der Bahn gefahren, bewunderte die gewaltige Kuppel Brunelleschis, ging kurz hinüber zum Baptisterium, auf dessen Türen ich im Vorübergehen kaum achtgab, nein, was ist denn eine Tür, eine Tür ist aus Glas, sie öffnet sich über eine Lichtschranke, erst Wochen später las ich über das kunstvolle Portal des Baptisteriums, betrachtete die Abbildungen, erinnerte mich. Von WOLF SENFF

Regen

Lite Ratur | Wolf Senff: Text für eine szenische Lesung (Regentropfen, Dauer ca. eine Minute, bis die Lesung einsetzt, im Dialog entstehen Pausen, auch lange Pausen) Es regnet. Niemand zwingt uns, das Gespräch fortzusetzen. Eben stand ein Regenbogen am Himmel. Wer aufmerksamem zuhört, merkt, dass hier kein Gespräch geführt wird.

Scammon 3/3

Lite Ratur | Wolf Senff: Wale Lassberg: Sie wurden 1825 geboren und verließen diese Welt im gesegneten Alter von sechsundachtzig Jahren. Nach Lage der Dinge ist kaum erklärlich, wie dieses Interview zustande kommt. Charles Scammon: Ein Rätsel. Die Dinge sind, wie sie sind, das Leben steckt voller Geheimnisse. Lassberg: Wäre es unhöflich, zu fragen, ob Sie sich wochentags eher im Himmel oder doch in der Hölle aufhalten?

Tinseltown

Lite Ratur | Wolf Senff: Begegnungen Ein schlanker Mann, eher klein, unauffällig. Hätte ich zu meiner Zeit, rief er, über diese immensen Möglichkeiten verfügt, ich versichere Ihnen, die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen. Was, rief er aus, wäre der Welt erspart geblieben! Seine Stimme drohte zu kippen, er schrie, nein angenehm war es nicht, ihm zuzuhören, er steigerte sich in ein Gebrüll.