Menage à trois

Jugendbuch | Marie-Aude Murail: 3000 Arten Ich liebe dich zu sagen

Was Chloé, Bastien und Neville verbindet, ist in der 7. Klasse eine Französischlehrerin, die mit der ganzen Klasse eine Don-Juan-Aufführung besucht. Auf alle drei springt der Funke über und alle drei beschließen, Schauspieler zu werden. Von ANDREA WANNER

Murail 300 ArtenChloé Lacouture, Vater Direktor der Charles-Péguy-Schule, Mutter Deutschlehrerin, ist eher gehemmt und hat Probleme aus sich herauszugehen; Bastien Vions stammt aus einem Lebensmittelladen mit Eltern, die keine Zeit für ihren Sohn haben, dennoch wirkt Bastien unbeschwert und witzig; der dritte im Bund, Neville Fersenne, Sohn einer alleinerziehenden Mutter, ist unnahbar und abweisend. Ihre Wege trennen sich nach der 7. Klasse und ein unverhofftes Wiedersehen gibt es in der Schauspielklasse von Monsieur Jeanson, der Wege findet, um jeden der Drei individuell zu fordern und zu fördern.

Im Laufe der Zeit werden aus den drei so unterschiedlichen Jugendlichen Freunde. Dass bei zwei Jungs und einem Mädchen dabei ein gewisses Ungleichgewicht entsteht, dass Gefühle entstehen, wahrgenommen und unterdrückt werden und dann auf der Ebene des Schauspiels ausprobiert und ausgelebt werden, macht den Jugendroman ungewöhnlich. Eine Rolle ist eben nicht nur eine Rolle, sondern bietet auch die Möglichkeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, zu reflektieren, zu variieren.

Die französische Schriftstellerin Marie-Aude Murail, die 2008 für ihr Jugendbuch ›Simpel‹ mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis der Jugendjury ausgezeichnet wurde, verlangt dem jugendlichen Lesepublikum einiges ab. Zitate, Passagen aus Stücken der Weltliteratur, Verweise auf bekannte und den Leserinnen und Lesern vermutlich unbekannten Autoren durchziehen die 300 Seiten. Das reicht von Shakespeares ›Romeo und Julia‹ über Eugéne Ionescos ›Der König stirbt‹ und Bert Brechts ›Leben des Galilei‹ bis zu Jean Ferrats ›Es ist immer das erste Mal.‹ Aus dem Kontext genommene Zitate sind manchmal harte Brocken, die auch den drei Hauptfiguren das Leben schwer machen. Ihr Ziel ist die Aufnahmeprüfung für die Pariser Schauspielschule – allerdings müssen sie feststellen, dass sie dieses Ziel nicht alle drei erreichen werden.

Raffiniert ist die Perspektive, aus der Murail die Geschichte erzählt. Wenn es um alle drei Jugendliche geht, ist immer von »uns« und »wir« die Rede und man versucht, den Ich-Erzähler unter den dreien auszumachen. Sobald es nur um eine einzelne Person geht, wechselt die Perspektive zu »sie« oder »er«. Das Rätselraten hält die Spannung konsequent aufrecht – auch als die Beziehung zwischen den Dreien komplizierter wird, werden die Veränderungen vermeintlich objektiv von außen geschildert, wobei klar ist, dass es nur einer der Freunde sein kann, der schildert, was passiert. Erst im allerletzten Satz wird das Rätsel dann gelöst.

Wer hinter dem Titel ›3000 Arten Ich liebe dich zu sagen‹ eine banale Lovestory vermutet, sollte zu anderer Lektüre greifen. Murail setzt die Bereitschaft sich mit Theater, Rollenlernen und -spielen, Dialogen und Texten auseinanderzusetzen voraus. Und die Definition des Dramatikers und Kritikers Eric Bentley, der Schauspiel definiert als »A verkörpert B, während C zuschaut«, lässt sich an Chloé, Bastien und Neville und ihrer Entwicklung auf besondere Weise nachvollziehen.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Marie-Aude Murail: 3000 Arten Ich liebe dich zu sagen
Trois mille façons de dire je t’aime, 2013
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Frankfurt: KJB 2015
302 Seiten, 12,99 Euro
Ab 14 Jahren

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

A Girl Walks Home Alone At Night With Her Headphones On: June’s New Singles Part 2.

Nächster Artikel

Stark sein

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Einladung zur Toleranz

Jugendbuch | Julius Thesing: You don’t look gay

Vielleicht war ich lange sehr naiv. Schwule und Lesben in unserer Gesellschaft? Nicht wirklich ein Problem. Klar, es gab und gibt Menschen mit Vorurteilen, aber im 21. Jahrhundert ist das doch wohl eine verschwindende Minderheit. Von ANDREA WANNER

Helfen schwer gemacht

Jugendbuch | Susan Kreller: Elefanten sieht man nicht »Hinsehen und handeln«, heißt es immer wieder, Zivilcourage wird laut gefordert, beherzt eingreifen, wenn Unrecht geschieht. Wie das Helfen aber genau aussehen soll, davon wird eher nicht gesprochen. Und schon gar nicht davon, wie man eingreifen soll, wenn man offenbar die Einzige ist, die überhaupt hingesehen hat, sich alle anderen aber blind und taub stellen. Susan Kreller hat in ihrem Debütroman Elefanten sieht man nicht eine sehr junge Heldin vor eben dieses Problem gestellt und aus der extremen Situation einen ganz außergewöhnlichen Roman gemacht fand MAGALI HEISSLER.

Wie ein Fisch auf dem Trockenen

Jugendbuch | Nat Luurtsema: Lou und ihr Männerballett Wasser ist das Element von Lou und ihr Traum seit langer Zeit der gleiche: sie will schwimmen und es gemeinsam mit ihrer besten Freundin Hannah in das Hochleistungstrainingslager schaffen und von dort in die Nationalmannschaft. Aber wie das eben so mit Träumen ist: sie können platzen. Von ANDREA WANNER

Schwere Entscheidungen

Jugendbuch | Clare Furniss: Morgen ist heute schon vorbei Hattie kann es auch nach dem 4. Test noch nicht glauben: sie ist schwanger. Von Reuben, der doch eigentlich nur ihr bester Freund ist. Wie soll und kann es weitergehen? Von ANDREA WANNER

Kampf ums Überleben

Jugendbuch | Lizzie Wilcock: Brennender Durst Durst meldet das Existenzbedürfnis. Der Mensch braucht Wasser und Nahrung so notwendig zum Leben wie Atmung, Licht und Wärme. Er braucht noch mehr. Was, davon erzählt Lizzie Wilcock. Von ANDREA WANNER