/

Vom Pulsschlag des Zuschauers

Film | Im TV: Polizeiruf 110 – ›Kreise‹ (Bayerisches Fernsehen), 28. Juni

Lange Gesprächsphasen, viel Ruhe, außer in der Eingangssequenz kein Stück inszenierte Dramatik, keine sensationellen Effekte, Verhöre im Plauderton, wie kann das passen. Die neue Masche Retro-Krimi? Oder was? Von WOLF SENFF

Abb: BR / Christian Schulz
Abb: BR / Christian Schulz
Null Schnickschnack – und fein, dass der technische Krempel, die erstickenden Apparaturen außen vor bleiben. Niemand will eine DNA-Probe vergleichen oder entdeckt ein sieben Zentimeter langes blondes Haar im Kofferraum und befördert es mit einer Pinzette in das Plastiktütchen. Keine Blutgruppen. Keine Mordkommission sucht nach Spuren im Wald.

Gewöhnliche Zutaten gestrichen

Auch nicht dass sich eine Polizeihierarchie flächendeckend ausbreitet. Kein aufgeregtes Geschrei, keine Hektik, keine Verfolgungsjagd, null überlappende Szenen, null schnelle Schnitte. Ruhige Einstellungen, absolut kompromisslos durchgezogen, varoufakis-style wird trendy, und all das funktioniert, wie wir überrascht feststellen, ohne Fehl und Tadel, unterlegt noch von klassischer Musik, die der Hausmeister sich nach Dienstschluss aufzieht, ja genau, der Hausmeister, wir haben die Auftritte des Doppelkonsonantenkommissars schon weniger menschenfreundlich erlebt.

Wo wir sind? Krimi? Nein, eine Schusswaffe gibt’s während der gesamten Dauer des Films nicht zu sehen. Prügelei ist Fehlanzeige (außer dass, wie unschön, der Inhalt eines Bechers Kaffee ein weißes Hemd bekleckert). Nein, man vermisst die sonst so scheinbar unentbehrlichen Accessoires nicht einen Augenblick lang. Da tritt ein Sonntagabendkrimi mal ohne die gewöhnlichen Zutaten auf, wie abenteuerlich, und vorher hätte man nicht geglaubt, dass das befreiend sein kann, nie im Leben (die Überwachungskamera, die bemüht wird, fällt da schon gar nicht mehr ins Gewicht).

Oh die taffe Kollegin!

Eine Music-Box? Ja, sicher doch. Eine Fleischmann-Anlage? Ja, und zwar höchst elegant mit Wendeln unter der sichtbaren Anlage. Da versteht jemand eine Menge von der Modelleisenbahn, und die Quintessenz all dessen liegt darin, dass die genretypischen Apparaturen rausgekickt sind, und plötzlich stehen die Menschen im Mittelpunkt, nicht aufdringlich, sondern mit überraschender Selbstverständlichkeit und unprätentiös.

Abb: BR / Christian Schulz
Abb: BR / Christian Schulz
Sogar Hanns von Meuffels wirkt diesmal auf sympathische Weise begradigt, nicht pomadig, nicht selbstgefällig, vielleicht half es, dass ihm eine taffe Kollegin zur Seite gestellt wird und ihm gleich nach paar Minuten auf die Mütze gibt. Überflüssig allerdings, dass nachher doch wieder die zarte Emotion gekitzelt wird, das Drehbuch kann es nicht lassen.

Spannend und stimmig

Der Fall selbst hat ein angemessen hintergründiges Strickmuster. Wie kam die Inhaberin der Möbelfabrik zu Tode und weshalb musste auch ihr Hund dran glauben? Verdächtigt wird der getrennt von ihr lebende Ehemann, verdächtigt wird auch seine Geliebte, auch der gemeinsame Sohn, und schließlich taucht sogar eine Transe bzw. Transsexuelle – nein, ich öffne das Fass nicht – aus der Slowakei auf.

Wir sehen, viel Aufklärung ist angesagt, sie ist krimimäßig stimmig organisiert, das Geschehen bleibt spannend, ohne dass das Drehbuch es darauf anlegt, Huch!, die Pulsfrequenz des Zuschauers mit Schockeffekten hochzutreiben.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Polizeiruf 110, ›Kreise‹ (Bayerisches Fernsehen)
Ermittler: Mathias Brandt, Barbara Auer
Regie: Christian Petzold
Sonntag, 28. Juni, 20:15 Uhr, ARD

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Großmacht

Nächster Artikel

Willkommenskultur

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Femme fatale, männerverschlingend

Film | Im TV: Tatort – Am Ende des Flurs (BR), 4. Mai Schön, man kann sagen, da zieht ein Täter von Anfang bis Ende sein Ding durch, konsequent, in aller Unschuld, einverstanden, kein Einwand. Wie so oft beginnt das Geschehen vergleichsweise unauffällig. Lisa Brenner, die bis vor anderthalb Jahren ein Verhältnis mit Franz Leitmayr hatte – man weiß davon noch nicht, der Herr Kommissar mag nicht mit der Sprache herausrücken, das wird ihm noch leidtun –, nun stürzt sie aus dem zwölften Stock. Wie sich bald herausstellt, trank sie den Champagner nicht alleine. Von WOLF SENFF

Bis zur letzten Sekunde

Film | Tatort: Der sanfte Tod (NDR), 7. Dezember »Wir sind die Niedersachsen/ sturmfest und elbverwachsen« – genau. Es geht um einen Schweineschlachtbetrieb, der international prächtig aufgestellt ist, mit vierhundertfünfzig Angestellten zuzüglich zweitausend Arbeitern auf Werksvertragsbasis, also Hungerlohn, mit drei Betrieben in Holland, zweien in China, einem Joint Venture in Russland, so eine Firma, gewiss, muss straff organisiert sein. Von WOLF SENFF

Der junge Mann und der Suff

Film | Im Kino: The Rum Diary Wenn die Namen Johnny Depp und Hunter S. Thompson in einem Satz fallen, denkt die Mehrzahl der Filmfreunde vermutlich sofort an Terry Gilliams schräges Roadmovie ›Fear and Loathing in Las Vegas‹. Dass den stilbildenden Journalisten und Schriftsteller Thompson bis zu seinem Suizid 2005 auch eine enge Freundschaft mit Depp verband, wissen dagegen wohl die wenigsten. Nicht zuletzt diese Freundschaft dürfte einer der Gründe gewesen sein, aus denen sich Johnny Depp so stark für die Verfilmung von Thompsons lange verschollen geglaubtem Roman-Erstling ›The Rum Diary‹ einsetzte. Und so verwundert es kaum, dass Depp neben

Vom Verschwinden des Menschen im Mineral

Film | Michelangelo Frammartino: Vier Leben Der 1968 in Mailand geborene Michelangelo Frammartino, dessen Familie ursprünglich aus Kalabrien stammt, hat seinen zweiten (wie schon seinen ersten uns allerdings unbekannten) Film in der Heimat seiner Vorväter gedreht – dort, wo das Mezzogiorno hoffnungslos – von Gegenwart & Zukunft verlassen – mit dem archaischen Kontakt und die bösartige »Ndrangheta« mafiotisch ihr Ursprungsrevier unter Kuratel hält. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Von Geräuschen hinter den Wänden und unheimlich (süßen) Kuscheltieren

Film | Auf DVD: Housebound Wenn sich der Komplize bei dem Versuch, einen Bankautomaten auszurauben, mit dem Vorschlaghammer selbst KO schlägt, ist die gerichtliche Verurteilung dazu, bei der Mutter Hausarrest zu bekommen, ähnlich dämlich, wie die versuchte Tat. ANNIKA RISSE über einen Grusel-Thriller mit Slasher-Elementen – oder umgekehrt!