Jener tiefe Graben zwischen Europa und Saudi-Arabien

Film | Im Kino: Das Mädchen Wadjda

Der Schulweg der zehnjährigen Wadjda im saudiarabischen Riad führt sie an einem Spielzeuggeschäft vorbei, das ein Fahrrad anbietet, grün, hübsch anzusehen, erkennbar chopper-gestylt. Dabei schlägt ihr Herz stets höher, denn dieses Rad zu besitzen würde bedeuten, sich endlich gegen den Nachbarsjungen Abdullah durchzusetzen und ihm davonzuflitzen, schnell wie der Wind. Obwohl es Mädchen untersagt ist, Fahrrad zu fahren, heckt Wadjda einen Plan aus, wie sie Geld für das Rad verdienen kann. Von WOLF SENFF

Wadjda
Gut, wir sehen davon ab, dass die Filme, in denen Kinder und Jugendliche ins Zentrum gestellt sind, zurzeit beim Publikum hervorragende Chancen haben und deshalb in vielen Variationen in den Kinos anlaufen. Dieser Film ist hochgradig prämiert, vergangenes Jahr beim Festival in Venedig, jüngst in Dubai mit dem Hauptpreis und dem Preis für die beste Hauptdarstellerin. Außerdem hat er das Alleinstellungsmerkmal, in Saudi-Arabien und Deutschland produziert zu sein.

Eine raffinierte, berechnende Kleine

Viel Vorschusslorbeer, und deshalb ist nur folgerichtig, dass man sich enttäuscht fühlt, weil der Film Handlungsmuster und Irrwege aufblättert, die man für sich selbst weit hinter sich abgelegt zu haben glaubt. Die kleine Wadjda ist scharf auf Geld und stellt sich dabei höchst raffiniert an. Einem westlichen Film ließen wir das kaum durchgehen. Wadjda zeigt weiblichen Charme, wenn es nützlich ist, und die süßen Kleinen giften sich gelegentlich an wie Marktweiber. Das alles ist letztlich als Komödie inszeniert.

Als Wadjdas Machenschaften auffliegen, droht ein Schulverweis und die Hoffnung auf das Geld ist dahin. Dem Mädchen bleibt nur eine Chance: Sie muss den hoch dotierten Koran-Rezitationswettbewerb der Schule gewinnen. Mit viel Eifer und Erfindungsgeist macht sie sich daran, die Suren zu lernen, und gewinnt sogar die Sympathie ihrer unerbittlichen Lehrerin. Vielleicht wäre es die bessere Lösung, Das Mädchen Wadjda in den Nachmittagsvorstellungen anzubieten.

Wadjda ist egoistisch, sie sucht ihren eigenen Vorteil. Es hat beinahe den Anschein, als wäre das für die Filmemacher der eigentliche Sinn von Selbstverwirklichung. Auch das ist mittlerweile eine Haltung von gestern. Nein, inspirierend ist Das Mädchen Wadjda nicht, neue Horizonte tun sich nicht auf, man muss das auch nicht erwarten.

Mutter und Tochter

Der Film dokumentiert die autoritären Strukturen Saudi-Arabiens, das eine der dogmatischen islamischen Nationen des Mittleren Ostens ist. Unsere Sympathie gilt selbstverständlich der trotzigen kleinen Wadjda, so wie unsere Sympathie auch Pippi Langstrumpf gilt. Aber sollen wir die Tatsache, dass Wadjda schließlich das Fahrrad gewinnt, als Lösung ihrer Probleme verstehen, die sie mit ihrem autoritären Umfeld hat? Das kann ja wohl nicht sein. Der Film bleibt eine Antwort schuldig.

Das Mädchen, so die an die Presse ausgegebene Auskunft über den Film, »hat keine Augen für die Probleme der Mutter, die mit allen Mitteln zu verhindern versucht, dass ihr Mann sich eine zweite Frau nimmt. Ebenso wie ihre mutige Tochter erkennt aber auch Wadjdas Mutter, dass sie einen steinigen Weg beschreiten muss, um für sich und ihre Tochter eine selbstbestimmte, bessere Zukunft zu erkämpfen«.

Eine solche Formulierung mag der PR-Abteilung leicht in die Tastatur fließen. Der Film selbst tut sich da schwerer. Davon, dass die Mutter ihren Ehemannn »mit allen Mitteln« halten will, kann kaum die Rede sein. Sie ist einer radikal traditionellen Frauenrolle verhaftet, sie vergöttert ihren Mann, ist ihm ergeben und nutzt die Chancen nicht, die sie hat, um aus dieser Rolle auszubrechen. »Eine selbstbestimmte, bessere Zukunft« ist nirgends in Sichtweite, nicht für die Mutter und nicht für die Tochter. Die realen, die ernsthaften Probleme entstehen erst jetzt, da die Filmhandlung sich ausblendet.

Der Film ist nett, unterhaltsam, es gibt rührende Szenen. Dieser Effekt wird nun einmal in einem Streifen erzielt, der Kinder und ihre Probleme abhandelt, Kinder sind zurzeit äußerst trendy, eine sichere Bank. Man kann Das Mädchen Wadjda ansehen und, wie gesagt, er illustriert den zivilisatorischen Bruch, der den Alltag Europas von Saudi-Arabien trennt.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Das Mädchen Wadjda
Ab 5. September im Kino (Vorschau)
97 Minuten
Saudi-Arabien, Deutschland, 2012
Regie: Haifaa Al Mansour
Darsteller: Reem Abdullah, Waad Mohammed, Abdullrahman Al Gohani.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Leiden der jungen Raina

Nächster Artikel

Wenn ich ’nen See seh …

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Dem Hai zum Fraß vorgeworfen …

Film | Im Kino: The Meg Als ein Forschungs-U-Boot angegriffen wird, ist klar: In den Tiefen des Pazifischen Ozeans lauert etwas Großes. Die Zeit für die Crew wird knapp. Manövrierunfähig liegt ihr Hightech – Wasserfahrzeug am Meeresgrund. Ein Fall für einen Tauch- und Bergungsexperten! Doch was dort in der Tiefe passiert, bleibt in der Tiefe! Oder? ANNA NOAH ist gespannt, wie sich die Menschheit diesmal vor der Verderbnis rettet.

Oktoberzeit war Leidenszeit

Film | Im TV: Polizeiruf 110 – Eine mörderische Idee Wir werden das Rad neu erfinden! Vorbei. Nach den experimentellen Probebohrungen der ersten Oktoberhälfte nun wieder Sonntagabendkrimi der feineren Art. Konservativ gefilmt, zügige Wechsel, weder Rückblenden noch überlappende Dialoge, paar ineinander verschachtelte Szenen fallen kaum auf, das Geschehen läuft eins nach dem anderen, irrlichternde Ermittler sind nicht vorgesehen. Ein Film, der statt von dramaturgischem Dekor und ausufernder Originalität von nüchterner Handlung lebt. Geht also noch. Von WOLF SENFF

»Blasen, die die Welt befreien«

Film | Thank you for the Rain Kenianische Dokumentarfilme wie ›Thank you for the Rain‹ zeigen eine afrikanische Perspektive. Übermütig und wild entschlossen sind sie Vorkämpfer für sozialen Wandel und Klimaschutz. SABINE MATTHES im Interview mit Peter M. Mudamba, Programmdirektor von DOCUBOX – dem ›East African Documentary Film Fund‹ – in Nairobi, Kenia.

Space is the Place

Film | Kino/DVD: Sun Ra: Space is the Place ›Space Is the Place‹ ist ein bizarres filmisches Manifest des Afrofuturismus. Sun Ra, der avantgardistische Jazzmusiker und Schamane aus dem Weltall, will die schwarzen Seelen Amerikas in eine bessere Zukunft führen. Von SABINE MATTHES

Gesellschaft auf Dröhnung

Kino & TV | Side Effects – von Steven Soderbergh Wie bereits in seinem Klassiker Traffic (2000) verbindet Steven Soderbergh auch in seinem neuen Thriller Side Effects (2013) eine spannende Geschichte mit einer aktuellen gesellschaftskritischen Thematik. Beide Filme behandeln das Thema Drogen. In Traffic war es der Kokainkonsum, der in den USA bereits alle Gesellschaftsschichten erfasst und zum Aufblühen der lateinamerikanischen Drogenkartelle geführt hat. Side Effects behandelt den massiven Konsum ganz legaler Drogen, den Antidepressiva. Deren Verbreitung wird dem Film zufolge von einer skrupellosen Psychopharmaka-Industrie vorangetrieben, die selbst Therapeuten für ihre Zwecke kauft. Von GREGOR TORINUS