Film | Im Kino: I, Tonya
Dass Tonya Harding die wohl berühmteste Eiskunstläuferin der Geschichte der Sportart ist, liegt nicht unbedingt an ihren Fähigkeiten auf dem Eis. Das Attribut »berühmt-berüchtigt« passt im Fall der US-Amerikanerin im Wortsinn; weltbekannt wurde sie 1994 durch ihre Verbindung zu dem Attentat auf ihre Konkurrentin Nancy Kerrigan. Craig Gillespie hat das Leben der »Eishexe« – so nannten sie die Medien – mit Margot Robbie in der Hauptrolle verfilmt. FELIX TSCHON will wissen: »Wie gut kann die Biografie einer Eiskunstläuferin uns unterhalten?«
Ein Redneck
Auf ironiefreien, wild-widersprüchlichen und völlig wahren Interviews mit Tonya Harding und ihrem Ex-Ehemann Jeff Gillooly basiere ›I, Tonya‹. Das verrät der Vorspann, nachdem die pinken Großbuchstaben des Titels auf schwarzem Hintergrund verschwinden. In den ersten Szenen sitzen anschließend Tonya, Jeff und die weiteren wesentlichen Figuren des Films vor Kameras und beginnen, zu erzählen. Das geschieht im Stil einer Dokumentation, einer Mockumentary vielmehr, weil es gleich grotesk wirkt.
Sein Name sei damals ein Verb geworden, erklärt Jeff ein bisschen stolz. Ein Synonym für das Zertrümmern von Kniescheiben. Sie entschuldige sich nicht dafür, ein Redneck, eine Hinterwäldlerin zu sein, sagt Tonya. Das sei sie schließlich.
Wie die »Eishexe« die »Eishexe« wurde
Mitte der 1970er-Jahre fängt Tonya Harding (im Alter von dreieinhalb Maizie Smith/zwischen acht und zwölf Mckenna Grace/später Margot Robbie) in Portland, Oregon, mit dem Eiskunstlauf an. Ihre Mutter LaVona (Allison Janney) – missbräuchlich in der Erziehung – treibt sie an, unter Trainerin Diane Rawlinson (Julianne Nicholson) wird sie zu einer der besten Läuferinnen der USA.
Mit 15 lernt Tonya den drei Jahre älteren Jeff Gillooly (Sebastian Stan) – später missbräuchlich in der Beziehung – kennen. Sie ziehen zusammen, heiraten. Anfang bis Mitte der 1990er-Jahre macht Tonya persönlich Höhen und Tiefen durch, aber auch sportlich; während der Vorbereitung auf die Olympischen Winterspiele 1994 erhält sie aus unbekannter Quelle eine Todesdrohung. Jeff beauftragt seinen Freund und Tonyas Bodyguard Shawn Eckhardt (Paul Walter Hauser) damit, Spitzenläuferin Nancy Kerrigan (Caitlin Carver) ebenfalls eine solche zukommen zu lassen.
Unfassbar, unglaublich
Eines sei noch verraten: Shawn versteht seinen Auftrag falsch. Es ist eines von vielen Missverständnissen, die die Handlung in ›I, Tonya‹ vorantreiben. Sie gehören zu den Grundlagen des Plots des Films. Einige Charaktere – wie Shawn – wollen mehr verstehen als sie können; andere können nur verstehen, was sie wollen.
Craig Gillespie erinnert mit seinem sechsten Werk über Spielfilmlänge an keine geringeren Filmemacher als Joel und Ethan Coen. Während die Coen-Brüder jedoch meist fiktive kaum fassbare Storys entwerfen, erzählt der Regisseur aus Australien eine reale nur schwer zu glaubende. Das Leben einer Eiskunstläuferin in den Fußstapfen des genreprägenden ›Fargo‹. Gillespie geht die Biografie von Tonya Harding kreativ an, als Komödie und Drama ist das eine Wucht.
Eine wahre Geschichte?
Das liegt auch daran, dass das Geschehene – vor allem direkt rund um das Attentat – wie ein Krimi aus dem True-Crime-Genre daherkommt. Steven Rogers (›P.S. Ich liebe dich‹) liefert ein Drehbuch, das die zwei Stunden Spielzeit wie im Flug vergehen lässt. Das Skript des Autors wartet mit Spannung, flotten Dialogen und viel Witz auf.
Das führt dazu, dass die Hintergründe möglicherweise lediglich ansatzweise der Wahrheit entsprechen. Gillespie und Rogers versetzen Tonya Harding in die Rolle des Opfers. In eine Schöne, von Biestern umgeben. ›I, Tonya‹ ist kein Drama, das wegen der Geschichte hinter der Geschichte vor Drama strotzt. ›I, Tonya‹ ist vielmehr ein Drama, das wahre Begebenheiten grotesk aufgreift, dadurch zu einer schwarzen Komödie wird.
Robbie und Janney großartig
Dass dieses Drama als Biografie funktioniert, liegt an seiner Hauptdarstellerin. Margot Robbie, seit ›The Wolf of Wall Street‹ von Martin Scorsese eine der begehrtesten Schauspielerinnen in Hollywood, macht den Film zu einem Triumph. Ihr gelingt es, den Aufstieg und Fall der oft als White Trash verschrienen Tonya authentisch zu spielen. Völlig zu Recht wurde sie für einen Oscar nominiert.
Allison Janney gewann für ihre Rolle der LaVona Harding gar einen als beste Nebendarstellerin. Die 58-Jährige porträtiert ihre Figur exzentrisch und trotz bizarrer Wesenszüge rundum intensiv. Eine tiefgründige Charakterstudie einer schlechten Mutter, obwohl – wortwörtlich – ein Papagei auf ihrer Schulter sitzt, ihr letzter verbliebener Gefährte.
In der weiteren Besetzung fallen Sebastian Stan als Jeff und Paul Walter Hauser als Shawn auf. Sie zeichnen sich für einen Großteil des Humors des Werks verantwortlich; vor allem Hauser trägt diesen als übergewichtiger Leibwächter: absurd, geistig schlicht, hinterhältig.
Blickwinkel
Bemerkenswert ist außerdem der Schnitt, für den Tatiana S. Riegel eine Oscar-Nominierung erhielt. Aus dem Einfall, die Charaktere in Mockumentary-Art direkt vor Kameras zu setzen, macht sie filmtechnisch das Fundament des Werks. Aus verschiedenen Perspektiven wird erzählt, verschiedene Perspektiven fängt sie ein. Dazu tut sich die Arbeit im Schneideraum hervor, wenn Tonya auf dem Eis steht, wenn sie in ausgefallenen Kleidern zu ungewöhnlicher Musik ihre Kunst präsentiert.
Groteske voller Witz und Drama
›I, Tonya‹ ist eine ungewöhnliche Biografie, weil Craig Gillespie die wahre Geschichte hinter dem Leben von Tonya Harding untypisch – sicher auch nicht ganz wahr – erzählt. Das Leben einer Eiskunstläuferin als Groteske voller Witz und Drama. Filmunterhaltung par excellence.
Titelangaben
I, Tonya
Regie: Craig Gillespie
Drehbuch: Steven Rogers
Darsteller
Margot Robbie: Tonya; Sebastian Stan: Jeff
Allison Janney: LaVona; Julianne Nicholson: Diane Rawlinson
Paul Walter Hauser: Shawn; Bobby Cannavale: Martin Maddox
Bojana Novakovic: Dody Teachman; Caitlin Carver: Nancy Kerrigan
Kamera: Nicolas Karakatsanis
Musik: Pater Nashel