Gesellschaft | Marco Maurer: Du bleibst, was du bist. Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet
Bildung als beste Chance zum Aufstieg, sozial, ökonomisch, gleich, von welchem Ausgangspunkt, gilt als gesellschaftlicher Konsens. Die sogenannte Bildungsdebatte entlarvt das als Mythos, solange es die Debatte gibt, und sie hat wirklich Jahrzehnte auf dem Buckel. Marco Maurer, um einiges jünger als die Debatte, hat die Legende nun auch entdeckt. Sie macht ihm gewaltig Sorgen. Nicht nur der Bildung wegen, das ist ihm zu wenig, sondern gleich wegen der Demokratie überhaupt. Von MAGALI HEISSLER
Die behauptete Chancengleichheit durch Bildung in Deutschland wird alle paar Jahre widerlegt, dazu bedurfte es weder PISA noch der energischen Mahnungen der OECD, die erst im September vergangenen Jahres die mangelnde »Bildungsmobilität« monierte. Akademikerkinder versus Nichtakademikerkinder also lautet der Gegensatz, den Maurer aufgreift. »Nichtakademiker« wird dabei von ihm zu »Arbeiterkind« umformuliert, griffig, suggestiv, obwohl der Begriff viel zu viele Unschärfen enthält. Definiert wird er nicht, im Gegenteil stellt sich Maurer selbst als »Arbeiterkind« vor. Er ist also Partei in seiner Darstellung und von einer solchen darf man keine Sachlichkeit erwarten. Erwarten darf man Engagement, Gefühl, Temperament bis hin zu einem Quäntchen Polemik, vor allem also eine spannende Story. Die bekommt man. Die eigene Rolle im Drama bringt allerdings einen gewissen Tunnelblick auf die Lage mit sich. Den bekommt man auch – in gewaltiger Dosierung.
Tunnelblick
Maurer begegnet man über die fast 380 Buchseiten immer wieder, seine Erfahrung ist der Maßstab. Leider ist sie auch die Wand, an der schon die Ahnung eines originellen Gedankens zum Thema abprallt. Maurer ist durchaus gründlich. Er besucht eine finnische Grundschule und eine Hamburger Reformschule, studiert Untersuchungen zum Thema, fragt Betroffene, von Studierenden bis hin zu denjenigen, die den Aufstieg zum ‚Akademiker‘ geschafft haben. Vor allem erzählt er von sich. Wie er recherchiert, was er beim Nachdenken trinkt und isst und wo, welche Fragen ihm kommen, wie er sich fühlte als Kind, Jugendlicher, Auszubildender. Er erzählt von seinen Bekannten, Frauen und Männern, von seinen angeblichen Defiziten, vom Unrecht, das »Arbeiterkindern«, besonders aber ihm widerfahren ist. Von seinen Lehrerinnen und Lehrern, seinen Hobbys. Die eigene Familie wird regelrecht vorgeführt, das liest sich richtig unangenehm. Die persönlichen Informationen sind erschöpfend und die Leserin ist erschöpft, noch ehe sie zum Ende gekommen ist.
Das Problem dabei ist, dass all das, was Maurer aus dem Lesen zahlreichen Materials zum Thema zitiert, durch den Rückbezug auf eigene Erfahrung, das ständige Einflechten eigener Erlebnisse an Wert verliert. Hier wird persönlich Anekdotisches illustriert und andersherum wissenschaftliche Erkenntnis durch persönliches Erleben vermeintlich bestätigt. Zur Vereinheitlichung der eigenen Erfahrung mit einigen anderen werden bestimmte Folgen des Aufstiegs vom »Arbeiterkind« zum »Akademiker« herausgegriffen und zum wesentlichen Kennzeichen ernannt. Burn-out, etwa. Oder die Entfremdung von der Herkunftsfamilie. Vielleicht wäre das Bild deutlicher geworden, hätte man die gefragt, die gescheitert sind an den Hürden. Die gibt es ja tatsächlich. Maurer aber geht es um die Erfolgreichen, er will nämlich etwas beweisen.
Anything you can do …
Das ist ebenso schlicht gedacht wie vorgeführt. Wir Arbeiterkinder, so lautet der Tenor, sind genauso gut wie die Akademiker. Was sie können, können wir erst recht. Dafür trifft er sich mit der Creme der Erfolgreichen, Konzernchefs, von Headhuntern umschwärmte Führungspersönlichkeiten, Politikern. Wessen Herz für Heldenepen schlägt, ist hier richtig. Die ausgewählten Lichtgestalten haben alle Härten überwunden, haben sich hochgeboxt, gelitten. Sie leiden noch, noch immer fühlen sie sich nicht recht anerkannt von denen, denen sie hinterherhetzen. Dabei tun sie doch alles, was die behauptete Gegenseite auch tut. Vor allem sind sie für viel, viel Geld verantwortlich. Maurer hängt an ihren Lippen. Bei den Konzernen wie Telekom oder der Deutschen Bahn scheint geradezu das Paradies ausgebrochen, wie sie dort regieren. Jemand wie Claus Weselsky muss da etwas falsch verstanden haben.
Bei Bewerbungen z.B. wird nicht mehr auf Schulnoten geachtet. Schulnoten stehen zurecht in der Kritik. Was in diesem Zusammenhang nicht bedacht wird, ist, dass mit ihnen als Kriterium eine weitere Möglichkeit wegfällt, Personalpolitik in irgendeiner Weise transparent zu machen. Schulnoten, egal in welcher Form nicht mehr zu beachten, bedeutet, die Entscheidungsgewalt der Konzerne über die Einstellung von Mitarbeiter/innen noch mehr zu auszudehnen. Das gilt ebenso für ein Projekt, Jugendliche aufzufangen und auszubilden. Maurer hält es geradezu für eine soziale Maßnahme. Tatsächlich bedeutet es, das finanzielle Risiko zu verringern, das jede einzelne Neueinstellung für einen Konzern ist, indem man einen eigenen Pool selbst herangezüchteter Kandidatinnen und Kandidaten schafft, unverdorben, nicht bereits beeinflusst und von Anfang an auf Konzerninteressen ausgerichtet. Leider trüben Tränen der Rührung den Blick des Autors.
Er wird auch nicht hellhörig, wenn ihm eine Frau in Leitungsfunktion auf die zusätzlichen Probleme hinweist, die sie als Frau hatte, es selbst aber nicht schafft, von Kolleginnen und Mitarbeiterinnen zu sprechen, sondern offenbar nur männliche Angehörige beider Gattungen kennt. Was Maurer auffällt, ist, dass die Managerin alle grüßt, denen sie auf dem Weg ins Büro begegnet – Klischee: Frauen haben ein besseres Sozialverhalten – und nicht recht weiß, was sie von einer Quote zur Frauenförderung halten soll. Das gefällt ihm, findet er Feminismus doch auch diskriminierend. Sein Argument gegen eine Quotenregelung ist so naiv, dass man es lesen muss, um es zu glauben.
Etwas enttäuschter ist er von den Vertretern aus der Politik. Bei der Linken kokettiert er mit der Furcht, marxistisch infiziert zu sein. Man kann ihn trösten, von Marxismus versteht er gar nichts. Die SPD hätte er gern etwas sozialdemokratischer, er zitiert Bismarck dazu, aus der Zeit der Sozialistengesetze. Vielleicht erklärt dieser Hang zum Vorgestrigen den Begriff »Arbeiterkind«?
Was Maurer nur beweist, ist, dass es ihm nicht um etwas Neues geht, sondern darum, in der Bettelhaltung zu verharren. ‚Seht her, wir können das doch auch alles. Warum liebt ihr uns denn nicht?‘ scheint zu sein, was ihn wirklich bewegt.
Die da oben und die da unten
Die Akademiker kommen auch vor. Sie besitzen Bücher, lesen sie, schreibt jedenfalls Maurer, vor allem haben sie Geld. Er hat Bekannte unter ihnen, Münchner Wohnungen haben es ihm angetan. Die Tatsache, dass Kinder aus »Akademikerfamilien« schon in der Schule besser gefördert werden auf Kosten der anderen, nimmt ihn ebenso mit wie der Umstand, dass Erbengemeinschaften ihre Finanzgeschäfte nicht mal eben am Bankschalter erledigen. Was hat hier eigentlich Vorrang?
Abgesehen von zwei Freundinnen werden alle ›Akademiker‹, die er je getroffen hat bzw. trifft, negativ beschrieben. Sie sind engstirnig, arrogant, voller Vorurteile, abweisend, haben keinerlei Benehmen. Man fragt sich, warum sich »Arbeiterkinder« eigentlich unbedingt einer derart unsympathischen Gruppe zugesellen sollen?
Sie sind jedoch die Sterne an Maurers Himmel. Eine gutsituierte, akademisch geprägte Freundin kümmert sich zeitweise um ein Mädchen aus einem Asylantenheim. Nach ihrem Berufswunsch gefragt, nennt der Teenager eine Lehre. Entsetzen ringsum. Einige Monate später, unter dem guten Einfluss (sie durfte sogar dabei sein, als ein Gipsabdruck des Babybauchs der gutbürgerlichen Betreuerin gemacht wurde), gibt sie eine andere Antwort, Ärztin. Sie hat ihre Lektion gelernt. Ein akademischer Beruf! Und nach Geld riecht er auch. Man fragt sich, wie die Reaktion gewesen wäre, hätte sie gesagt, sie wolle Romanistik und Archäologie studieren oder Schauspielerin werden.
Akademisch, das, wovon »Arbeiterkinder« ausgeschlossen sind, ist hier ausschließlich gleichbedeutend mit Geld und Karriere. Ein eigenes, anderes Menschenbild sucht man vergeblich. Wissen, Bildung, Kunst sind kein Wert an sich, nur welches Kapital man daraus schlagen kann, welche Macht zu gewinnen ist, zählt.
Das zeigt sich am besten daran, wie Maurer die beschreibt, für die er sich angeblich einsetzt. Das sind zum einen die Schwester und der Vater, deren Weltsicht als beschränkt geschildert wird, milde gesprochen.
Arbeiterkinder sind rauer im Umgang, da darf auch ein bisschen Rassismus sein. Seitenhiebe gegen Bezieher/innen von Hartz-IV fehlen nicht, auf die wüsteste Art, als sei das etwas, das man sich aussucht. Und wer aufs Studium verzichtet und eine Lehre anpeilt, die tut es, weil sie mit einem Flachbildschirm liebäugelt. Zudem sind sie in der Masse dumm, lesen keine Zeitung, interessieren sich nicht für Politik und gefährden die Demokratie. Von Ferne grüßen schon die Salafisten. So sind sie, die Arbeiterkinder. Hier hat auch einer seine Lektion gelernt.
Für die immer wieder angeführten Studien gibt es kein gesondertes Verzeichnis. Man muss bei Bedarf alles mühsam aus dem Text herausfischen, der an sich schon von überflüssigen Details überquillt. Die Lösungsvorschläge am Ende sind längst bekannt, Maurer fasst zusammen, was ihm am ehesten zusagt.
Widersprüchlich, rückwärtsgewandt, naiv, banal in der Sache, mag die Lektüre geeignet sein, die eigene Lebensgeschichte parallel zu Maurers Revue passieren zu lassen und sich die Ungerechtigkeiten zu vergegenwärtigen, die es tatsächlich gibt. Zur gesellschaftlichen Veränderung taugt diese Story nichts.
Die Frage des Untertitels beantwortet das Buch auch nicht. Dafür müsste man zuerst einmal die hiesigen Gegebenheiten grundsätzlich infrage stellen. Aber das ist deutlich zu viel verlangt.
Titelangaben
Marco Maurer: Du bleibst, was du bist. Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet.
München: 2015 Droemer
381 Seiten. 18,00 Euro
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