/

Iss den verdammten Marshmallow!

Kulturbuch | Walter Mischel: Der Marshmallow-Test. Willenstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit

›Der Marshmallow-Test. Willenstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit‹ von Walter Mischel ist ein interessantes Buch über ein psychologisches Experiment. Noch interessanter allerdings sind die Fragen, die es weglässt.Von  JAN FISCHER

Der Marshmallow-Test von Walter Mischel
Setze ein Kind vor etwas, das es will, sagen wir, eine Süßigkeit. Sag dem Kind, du gehst jetzt für eine Weile aus dem Raum, und wenn du wiederkommst, und die Süßigkeit immer noch da ist, bekommt es zwei davon.

Geh aus dem Raum.
Beobachte, was das Kind mit der Süßigkeit tut.

Das ist das einfache Grundgerüst der Marshmallow-Experimente, die der Psychologe Walter Mischel seit mehr als 40 Jahren unterschiedlichen Varianten durchführt. Es geht dabei um die Fähigkeit von Kindern und Jugendlichen zum Belohnungsaufschub geht. Und im Prinzip sind die Ergebnisse nicht überraschend: Je älter die Kinder sind, desto eher sind sie in der Lage, zu warten. Je abgelenkter sie sind – durch Spielzeug o.ä. – desto eher sind sie in der Lage, zu warten. Je besser das Elternhaus, desto eher sind sie in der Lage zu warten – weil sie Sicherheit gewohnt sind.

Mischel führte über Jahre das Experiment immer wieder durch, testete sich durch soziale Schichten, Geschlechterunterschiede, er entwickelte Theorien zu der Frage, wie genau die Situation das Verhalten der Kinder beeinflusst, er entwickelte das sogenannte kognitive Persönlichkeitsmodell, in dem es, grob gesagt, darum geht, dass Menschen sich entsprechend bestimmter Faktoren immer ähnlich verhalten. Sein Buch ›Der Marshmallow-Test‹ fasst all das noch einmal zusammen, es ist ein plauderiges, aber kluges Buch über 40 Jahre psychologischer Forschung.

Erfolg im Leben

Richtig interessant wird es allerdings an einem Punkt, den auch Mischel eher durch Zufall entdeckte: Er fand heraus, dass diejenigen Kinder, die in der Lage waren, die Belohnung aufzuschieben, später eher Erfolg im Leben haben, wobei sich Erfolg an akademischen, emotionalen und sozialen Faktoren bemisst – also die Höhe des Bildungsgrades, die Frage, wie emotionale Rückschläge verarbeitet werden, wie viel sozialen Kontakt der entsprechende Mensch hat. Daraus kann man schließen, dass Menschen, die zufrieden sind mit dem, was sie haben eben nicht weiter machen, also lieber die kleine Belohnung, die sie jetzt, sofort bekommen können, gegen die große Belohnung später eintauschen.

Gewinnmaximierung

Mischels Buch ist ein interessanter Einblick in menschliche Verhaltensmuster, vor allem aber ein interessanter Einblick in die Frage, welche Verhaltensmuster von der Gesellschaft mit Erfolg belohnt werden. Selbstvertrauen, Stressresistenz, soziale Kompetenz, das alles sind Faktoren, die im Marshmallow-Test auf die eine oder andere Weise rudimentär abgefragt werden, und sich dann im späteren Leben zu entscheidenden Faktoren für den Erfolg entwickeln.

Wo Mischels Buch etwas zu kurz kommt – was zu erwähnen allerdings auch nicht seine Aufgabe aus Psychologe und Empiriker ist – ist der Punkt, an dem genau diese Faktoren für „Erfolg“ hinterfragt werden. Denn die hängen ja offenbar davon ab, wie wir Erfolg definieren – und wie eben nicht. Und der Punkt ist, den Mischels Buch auch noch einmal deutlich zeigt, dass Belohnungsaufschub, also, wenn man so will, Selbstkasteiung, in unserer Gesellschaft belohnt wird und damit erstrebenswert ist. Man kann das so akzeptieren, sagen, dass es in Ordnung ist, Verluste zu akzeptieren für eine größere Belohnung – oder man kann sich fragen, ob nicht genau das die Basis einer Leistungsgesellschaft liegt, die gerne mal die Gewinnmaximierung zugunsten der Menschlichkeit vergisst.

JAN FISCHER

Titelangaben
Walter Mischel: Der Marshmallow-Test. Willenstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit.
München: Siedler Verlag 2015
400 Seiten, 24,95 Euro
Auch als E-Book

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Herr Maurer macht sich Sorgen

Nächster Artikel

A Different Kind Of Racket: June/July’s New Albums Reviewed

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Zurückgezogenheit im Rausch

Gesellschaft | Leslie Jamison: Die Klarheit Man kennt die Geschichten über Sucht, bevor man sie ganz gehört hat, denn sie ähneln sich erschreckend. Leslie Jamison, die selbst jahrelang mit dem Verlangen nach Alkohol kämpfte, wagt sich an die Genesung und Heilung als spannende, lebensbejahende, befreiende Alternative. Von MONA KAMPE

Hamburg-Werbung

Gesellschaft | Henri Lefebvre: Das Recht auf Stadt Über Städte nachzudenken, das ist eine brennend aktuelle Angelegenheit. Denn die Situation ist unübersichtlich; jeder weiß, wie begehrt es ist, in der Stadt zu wohnen und nicht in deren Randbezirke, ›Schlafstädte‹, verdrängt zu sein. In den Schwellenländern wachsen Megastädte mit dreißig, vierzig Millionen Einwohnern, dass man sich grundsätzlich fragen muss, wie es noch möglich sein soll, gestaltend einzugreifen. Von WOLF SENFF

Der Blick über den Kartenrand

Kulturbuch | Jerry Brotton: Die Geschichte der Welt in zwölf Karten In einer Zeit, in der Routenplaner, Navigationsgeräte und ein digitaler Blick auf unsere Erde die Wege planen, die wir nehmen, haben Karten ihre Bedeutung verloren. Vorbei die Zeit, in der man sich fragen musste, ob man die Stadtkarte richtig herum hält. Jerry Brotton sieht das anders. In ›Die Geschichte der Welt in zwölf Karten‹ erklärt er, wie Karten unsere Weltsicht und unser Denken geprägt haben und immer noch prägen. VIOLA STOCKER über gezeichnete Wegweiser und wegweisende Zeichnungen.

Historische Arbeit mit Gegenwartsbezug

Kulturbuch | Dierk Walter: Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion Dierk Walter mischt die Vergangenheit auf und man kann dem so gar nichts entgegenhalten. Europa als Friedensmacht? Die Freie Welt als Vorbild? Nein, kommt nicht vor. Dierk Walter widmet sich der »politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtprojektion«, ausgehend vom »kapitalistischen Zentralstaat der westlichen Moderne«. Von WOLF SENFF

Etikettenschwindel

Kulturbuch | Hannelore Schlaffer: Die intellektuelle Ehe

Es gibt das Sprichwort von der Diskussion im luftleeren Raum. Ganz leer ist der Raum zwar nicht, in dem das Buch Die intellektuelle Ehe von Hannelore Schlaffer argumentiert, aber die Luft ist sehr dünn. Das Philosophenpaar Sartre und Beauvoir oder der Theatermensch Brecht werden als herausragende Beispiele dieser Idee präsentiert, deren Uneinlösbarkeit maßgeblich zu ihrem Reiz beiträgt. Von BASTIAN BUCHTALECK