Gefühle

LiteRatur | Von Wolf Senff

Sie wissen doch sonst stets Bescheid, unsere Hochbegabten, die von Sondermitteln profitieren, und weshalb können sie uns nichts über unsere Gefühle erzählen. Woher sie kommen. Weshalb sie sich verändern. Wo sie bleiben.

Abb: Ryan McGuire
Abb: Ryan McGuire
Ach, Krähe, wisst ihr nicht von jenen Feldern, auf denen die Gefühle wachsen, kennst du nicht die Heimat der Sehnsüchte, wo findest du sie, liegt sie über den Wolken, oder kennst du die anderen Orte, wo der Mensch sich nie aufhält, unerreichbar fern, jene Felder, die sich menschlichen Blicken entziehen.

Sag, Krähe, werden Gefühle gesät, wer sät sie aus, wie nähren sie sich, dass sie wachsen, und wann, Krähe, sag, wann sind sie reif, wie erreichen sie uns, wann treffen sie ein. Und ob sie aufblühen, wüsste ich gern, und weshalb sie welken.

Nein, Krähe, diejenigen, die rechnen und messen, die sind entbehrlich. Wir wüssten nur gern, wo die Gefühle siedeln, sobald wir sie spüren. Ach, Krähe, komm mir nicht so neunmalklug, Schmerz ist ein Beispiel, das hinkt, du beliebst zu scherzen. Klar, wenn ich dir auf die Füße trete, sitzt der Schmerz im Fuß. Gut, er strahlt aus, du spürst ihn bis in den Kopf. Du kühlst dir die Zehen und wartest, dass der Schmerz nachlässt.

Vor drei Wochen, Krähe, hast du Joachim angegriffen, meinen älteren Bruder, im Park, du erinnerst dich, sogar in der Zeitung war davon zu lesen. Für dich war Joachim schuld daran, dass ein oder zwei Eier aus deinem Nest stürzten, du bist auf ihn zu geflogen in deiner Wut und wolltest ihn verletzen; seitdem geht er eine andere Strecke durch den Park. Da ergriff dich ein Gefühl, Krähe, die Wut packte dich, du warst ihr ausgeliefert und wolltest auf Joachim losgehen, der von nichts wusste.

So ist das gemeint mit den Gefühlen, verstehst du. Wo halten sie sich auf, wenn sie nicht bei uns sind. Und woher weiß die Wut, wann sie dir willkommen ist. Sie ist höchst aggressiv, sie sucht uns heim, sie macht uns zu Opfern. Gern sattelt sie drauf und kommt im Bündnis mit dem Hass einher, nein einfach ist das wahrlich nicht, Krähe. Da dürften wir von unseren Hochbegabten, unserer Leistungselite in spe, statt dass sie Banker werden oder Ingenieure, doch erwarten, dass sie sich um diese Dinge kümmern, verstehst du.

Der Hass, der dich ergreift, schleicht sich in dein Gesicht und lässt sich dort nieder, er entstellt es, verzerrt es, er gibt sich zu erkennen in gehässigen Blicken, stell dir vor, er treibt dich an so wie die Gier, diese Gefühle erobern dich ganz und gar, sie halten dich mit eiserner Faust, sie finden ihr Vergnügen darin, mit dir herumzuspielen. Wär‘ doch ein Thema, über das sich nachzudenken lohnt, Krähe, was meinst du dazu.

Das Gesicht ist ein Aufenthaltsort für Gefühle, verstehst du, es verleiht vielen Gefühlen ihren äußeren Ausdruck, von euch lässt sich das vermutlich nicht so sagen, Krähe. Das menschliche Gesicht spiegelt viele Empfindungen und kann sogar auf Leere und Abwesenheit von Empfindungen hinweisen. Perfekt.

Aber Gesicht wie eine Maske gibt’s auch. Das Lachen im Verkaufsgespräch muss echt wirken, im Zweifel wurde das eingeübt, denn der Kunde darf nicht den Eindruck haben, er solle getäuscht werden, du verstehst, die Dinge sind kompliziert, dieses ist nicht die Welt, Krähe, in der gerechnet würde oder gezählt.

Aus welchen Gründen sich niemand kümmert, Krähe, ich weiß es auch nicht. Will halt niemand? Wahrscheinlich hast du recht. Der Mensch, sagst du, sei mit sich zufrieden? Hm. Nein, kann ich mir nicht vorstellen, Krähe. Er herrsche über den Planeten, sagst du, er knechte seine Mitmenschen, und er genieße das Gefühl, mächtig zu sein? Dieses Gefühl, sagst du, halte ihn unverrückbar in den Klauen, er schätze sich glücklich?

Doch du schweifst ab, Krähe, kluges Kerlchen. Mir würde es genügen zu wissen, wo die Gefühle ihren Ursprung haben. Keine Ahnung, wie das bei euch ist, Krähe, doch der Mensch ist seinen Gefühlen ausgeliefert, oft genug führen sie ihn mit List und Tücke ein Leben lang auf allerlei Irrwege, und er bildet sich trotz allem ein, er sei seinem Glück auf der Spur. Die Dinge, ich erwähnte das, sind kompliziert. Wer da zählen will, rechnen und messen, der hält sich längst in der Sackgasse auf.

Du kannst nicht ankämpfen gegen Gefühle, Krähe, keine Chance, ich erinnere dich an deine Wut auf Joachim, und das macht es erneut kompliziert, was soll man tun. Gut, ja, ich weiß, von manchen Menschen sagen wir, sie seien gefühllos. Ist auch wieder falsch. Es handelt sich um kaltblütige Machtmenschen, das hatten wir eben. Meine Güte. Werd‘ da einer draus schlau. Wär‘ mal an der Zeit, dass sich jemand kümmert, Krähe.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Abgesagt: Franco Berardi

Nächster Artikel

Freundschaft

Weitere Artikel der Kategorie »Lite Ratur«

Orang-Utan

Wolf Senff: Tierwelt Die Bäume sind seine Welt, er bewohnt diesen Planeten seit zwei Millionen Jahren; es geschieht selten, dass er aufrecht auf den Beinen geht. Er flicht sich Zweige zu Nestern, die er manchmal nur einen halben Tag lang bewohnt, und ernährt sich von den Früchten des Urwalds, sein Lebensraum umfasst mehrere Quadratkilometer. Das erwachsene männliche Tier ist ein Einzelgänger, sein mächtiger, eindringlicher Ruf, heißt es, übertreffe das Brüllen des Löwen, sei aber auch, erzählen die indigenen Dayak, ein qualvolles Seufzen, nachdem die Braut ihn in der Hochzeitsnacht verlassen habe. Was der Mensch halt so erzählt.

Ukraine, Polen, Nordirland

Lite Ratur | Wolf Senff: Ukraine, Polen, Nordirland Das Spiel vergangenen Sonntag hatte seinen eigenen Charme, die erste Halbzeit war nicht von Taktikgeplänkel geprägt, kaum grüner Tisch, erst in der zweiten Hälfte wurde erkennbar nach Spielkontrolle und System gestrebt. Boateng und Schweinsteiger setzten unterhaltsame Höhepunkte.

Meer

Lite Ratur | Wolf Senff: Meer Das Meer ist tief, besonders zur Mitte hin, sagt man, nur wer wüsste zu sagen, wo sich die Mitte des Meeres findet oder ob es überhaupt eine hat. Ich könnte im Wasser nicht leben, das Meer ist mir fremd, nein ich habe in meinem Leben nie geangelt, auch Freunde von mir angeln nicht, ich kenne das Angeln vom Hörensagen.

Balltreten satt

Lite Ratur | Wolf Senff: Balltreten satt Leid tun einem die Reporter, oder heißen sie jetzt doch Moderatoren. Berichterstatter? Alle halbe Stunde sind sie gehalten, darauf hinzuweisen, dass die Zuschauer zusätzliches Hintergrundmaterial einsehen und sich sogar Spielszenen einspielen können, echt spitze, aus verschiedenen Blickwinkeln, werden Sie Ihr eigener Regisseur, was für ein Quatsch. Von WOLF SENFF

Volkswagen

Lite Ratur | Wolf Senff: Begegnungen Er hatte die unangenehmen Zeitgenossen ausnahmslos abgewimmelt, oder? So viele waren es nun auch wieder nicht gewesen, aber finde sich mal einer zurecht in dem herrschenden Durcheinander. Immer mal wieder kam einer an in heller Verzweiflung und wollte sich auf seine Fähre flüchten. Bestechung? Nein, kein Gedanke daran, die Bräuche der Sterblichen waren hier unbekannt, er würde niemanden übersetzen, dessen Zeit nicht gekommen war.