LiteRatur | Von Wolf Senff
Sie wissen doch sonst stets Bescheid, unsere Hochbegabten, die von Sondermitteln profitieren, und weshalb können sie uns nichts über unsere Gefühle erzählen. Woher sie kommen. Weshalb sie sich verändern. Wo sie bleiben.
Ach, Krähe, wisst ihr nicht von jenen Feldern, auf denen die Gefühle wachsen, kennst du nicht die Heimat der Sehnsüchte, wo findest du sie, liegt sie über den Wolken, oder kennst du die anderen Orte, wo der Mensch sich nie aufhält, unerreichbar fern, jene Felder, die sich menschlichen Blicken entziehen.Sag, Krähe, werden Gefühle gesät, wer sät sie aus, wie nähren sie sich, dass sie wachsen, und wann, Krähe, sag, wann sind sie reif, wie erreichen sie uns, wann treffen sie ein. Und ob sie aufblühen, wüsste ich gern, und weshalb sie welken.
Nein, Krähe, diejenigen, die rechnen und messen, die sind entbehrlich. Wir wüssten nur gern, wo die Gefühle siedeln, sobald wir sie spüren. Ach, Krähe, komm mir nicht so neunmalklug, Schmerz ist ein Beispiel, das hinkt, du beliebst zu scherzen. Klar, wenn ich dir auf die Füße trete, sitzt der Schmerz im Fuß. Gut, er strahlt aus, du spürst ihn bis in den Kopf. Du kühlst dir die Zehen und wartest, dass der Schmerz nachlässt.
Vor drei Wochen, Krähe, hast du Joachim angegriffen, meinen älteren Bruder, im Park, du erinnerst dich, sogar in der Zeitung war davon zu lesen. Für dich war Joachim schuld daran, dass ein oder zwei Eier aus deinem Nest stürzten, du bist auf ihn zu geflogen in deiner Wut und wolltest ihn verletzen; seitdem geht er eine andere Strecke durch den Park. Da ergriff dich ein Gefühl, Krähe, die Wut packte dich, du warst ihr ausgeliefert und wolltest auf Joachim losgehen, der von nichts wusste.
So ist das gemeint mit den Gefühlen, verstehst du. Wo halten sie sich auf, wenn sie nicht bei uns sind. Und woher weiß die Wut, wann sie dir willkommen ist. Sie ist höchst aggressiv, sie sucht uns heim, sie macht uns zu Opfern. Gern sattelt sie drauf und kommt im Bündnis mit dem Hass einher, nein einfach ist das wahrlich nicht, Krähe. Da dürften wir von unseren Hochbegabten, unserer Leistungselite in spe, statt dass sie Banker werden oder Ingenieure, doch erwarten, dass sie sich um diese Dinge kümmern, verstehst du.
Der Hass, der dich ergreift, schleicht sich in dein Gesicht und lässt sich dort nieder, er entstellt es, verzerrt es, er gibt sich zu erkennen in gehässigen Blicken, stell dir vor, er treibt dich an so wie die Gier, diese Gefühle erobern dich ganz und gar, sie halten dich mit eiserner Faust, sie finden ihr Vergnügen darin, mit dir herumzuspielen. Wär‘ doch ein Thema, über das sich nachzudenken lohnt, Krähe, was meinst du dazu.
Das Gesicht ist ein Aufenthaltsort für Gefühle, verstehst du, es verleiht vielen Gefühlen ihren äußeren Ausdruck, von euch lässt sich das vermutlich nicht so sagen, Krähe. Das menschliche Gesicht spiegelt viele Empfindungen und kann sogar auf Leere und Abwesenheit von Empfindungen hinweisen. Perfekt.
Aber Gesicht wie eine Maske gibt’s auch. Das Lachen im Verkaufsgespräch muss echt wirken, im Zweifel wurde das eingeübt, denn der Kunde darf nicht den Eindruck haben, er solle getäuscht werden, du verstehst, die Dinge sind kompliziert, dieses ist nicht die Welt, Krähe, in der gerechnet würde oder gezählt.
Aus welchen Gründen sich niemand kümmert, Krähe, ich weiß es auch nicht. Will halt niemand? Wahrscheinlich hast du recht. Der Mensch, sagst du, sei mit sich zufrieden? Hm. Nein, kann ich mir nicht vorstellen, Krähe. Er herrsche über den Planeten, sagst du, er knechte seine Mitmenschen, und er genieße das Gefühl, mächtig zu sein? Dieses Gefühl, sagst du, halte ihn unverrückbar in den Klauen, er schätze sich glücklich?
Doch du schweifst ab, Krähe, kluges Kerlchen. Mir würde es genügen zu wissen, wo die Gefühle ihren Ursprung haben. Keine Ahnung, wie das bei euch ist, Krähe, doch der Mensch ist seinen Gefühlen ausgeliefert, oft genug führen sie ihn mit List und Tücke ein Leben lang auf allerlei Irrwege, und er bildet sich trotz allem ein, er sei seinem Glück auf der Spur. Die Dinge, ich erwähnte das, sind kompliziert. Wer da zählen will, rechnen und messen, der hält sich längst in der Sackgasse auf.
Du kannst nicht ankämpfen gegen Gefühle, Krähe, keine Chance, ich erinnere dich an deine Wut auf Joachim, und das macht es erneut kompliziert, was soll man tun. Gut, ja, ich weiß, von manchen Menschen sagen wir, sie seien gefühllos. Ist auch wieder falsch. Es handelt sich um kaltblütige Machtmenschen, das hatten wir eben. Meine Güte. Werd‘ da einer draus schlau. Wär‘ mal an der Zeit, dass sich jemand kümmert, Krähe.