Offen-verworren und brillant-stringent

Film | Neu auf DVD: Die Wolken von Sils Maria

Sils Maria ist ein Ortsteil von Sils, welcher in der Schweiz, Kanton Graubünden liegt. Dank des angenehmen Klimas und der schönen Lage zog es viele Schöngeister dorthin, die in Ruhe ihre Inspiration finden wollten. So auch der Regisseur Wilhelm Melchior, welcher eine Neuauflage seines erfolgreichen Theaterstückes ›Die Malojaschlange‹ plant. Von ANNIKA RISSE

Die_Wolken_von_Sils_Maria_-_PlakatDas Stück schildert die Beziehung zweier Frauen, Helena und Sigrid. Es endet tragisch – mit dem Selbstmord Helenas, die im Strudel der emotionalen Abhängigkeiten untergeht. Die durch das Stück berühmt gewordene Maria Enders (Juliette Binoche) spielte mit der Rolle der Verführerin Sigrid vor über 20 Jahren ihr Debüt. Ihre Karriere scheint jedoch mit der vorangeschrittenen Zeit etwas gelitten zu haben. So kann ihre persönliche Assistentin Valentine (Kristen Stewart) hauptsächlich nur noch Anfragen für Fotoaufnahmen von Modefirmen entgegen nehmen und wenig bis keine Rolle.

Sils-Maria

»Hier saß ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts,
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts
Genießend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.

Da, plötzlich, Freundin! Wurde Eins zu Zwei –
– Und Zarathustra ging an mir vorbei …«

Aus Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (1882)

Wegen des Todes des ursprünglichen Regisseurs Melchior wird das Stück durch den Jungregisseur Klaus Diesterweg (Lars Eidinger) umgesetzt; jedoch nun nicht mehr mit Maria als gealterte Sigrid, sondern als die Verführte, Helena. Die junge Sigrid soll vom skandalumwitterten, selbstgerechten Hollywoodsternchen Jo-Ann Ellis (Chloë Grace Moretz) gespielt werden. Maria nimmt das Angebot widerwillig an und fährt zur Textprobe an den Ort, an dem das Stück entstand, eben ›Sils Maria‹.

Film im Film im Film im Film

Dieser Film bietet dem Zuschauer mehr als eine Ebene. Jede Zusammenfassung des Inhalts ist somit lückenhaft. Der Film zeichnet sich insbesondere durch seine verworrene Struktur aus. Bei oberflächlicher Betrachtung haben wir es hier mit der Geschichte einer Frau zu tun, die versucht mit ihrem voranschreitenden Alter klarzukommen und den damit einhergehenden Veränderungen. Bei näherer Betrachtung brilliert der Film jedoch immer wieder durch seine Komplexität.

Regisseur und Schauspielerin

Olivier Assayas, Regisseur und Drehbuchautor von ›Die Wolken von Sils Maria‹ schrieb 1985 das Drehbuch zu ›Rendez-vous‹, mit Juliette Binoche in der Hauptrolle. Für die junge Juliette war dies der Durchbruch. 30 Jahre später zusammen einen Film über eine Frau zu drehen, die mit der voranschreitenden Zeit und den Konflikten der unterschiedlichen Rollen zu kämpfen hat, erscheint mutig.

Autorenkino und Genrefilm

In einer Szene schauen sich Valentine und Maria den Film des Starlets Jo-Ann an, ein quietschbuntes, aufgedrehtes Actionspektakel á la ›X-Men‹ oder ›Star Trek, Avengers‹. Nachdem die beiden Frauen das Kino verlassen, kommt die kulturpessimistische Einstellung Marias zum Vorschein und Valentin lehrt sie ein besseres. Mit einem wunderbaren Statement das aktuelle Kino erklärend. Im Sinne eines erweiterten Kulturbegriffs durchaus nicht neu. Doch im Hinblick auf Kristen Stewarts früherer Charakter in der ›Twilight-Saga‹, wiederum selbstironisch, intelligent und gut platziert.
Maria und Valentine

Bei den Passagen der Textprobe von Maria Enders für ihre Rolle der Helena, was ihr extrem zu schaffen macht, übernimmt Valentine die Rolle der Sigrid. So haben wir es mit einer intensiven Verbindung der beiden Rollen zu tun, die eine verschlungene Struktur aufweist. Wenn Valentine die Sigrid spricht, fällt es einem als Zuschauer immer schwieriger, zu entdecken, wer hier redet. Ist Valentine mit ihrer jetzigen Situation in einer Sackgasse, möchte sie weiter und Maria verlassen? Oder sind das die Worte von Sigrid. Es eröffnet sich ein spannendes Schauspielerinnen-Kino höchster Qualität, welches durch eine brillante Stewart überzeugt.

Nur für Frauen?!

Dieser Film verdient Respekt und sollte nicht übereilt in die Schublade der »Frauen-Problem-Filme« gesteckt werden. Er wirkt offen-verworren und brillant-stringent. Es ist jedoch eindeutig, dass man es hier nicht mit leichter Kost zu tun hat. Der Film beginnt und endet ruhig, regt immer wieder zum nachdenken an. Schnell verliert man sich zwischen Selbstreflexion und Reflexion der Rollen sowie ihrer Beziehungen zueinander. Jeder Kinofan, der einen intelligent erzählten Film sucht, findet diesen mit ›Die Wolken von Sils Maria‹.

| ANNIKA RISSE

Titelangaben
Die Wolken von Sils Maria (Clouds of Sils Maria)
Drehbuch/Regie: Olivier Assayas
DarstellerInnen:
Juliette Binoche
Kristen Stewart
Chloë Grace Moretz
Lars Eidinger

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Berardi und »Poetische Quellen«

Nächster Artikel

Ästhetik der Gehörlosigkeit

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Kinder, Kinder

Film | Tatort – Angezählt (ORF), 15. September Angezählt breitet die Odyssee eines Zwölfjährigen aus. »Ich bin Ivo. Ich bin zwölf Jahre alt. Im Sinn §64 StGB ist unmündig. Darf nicht strafen.« Da hat er zweifellos recht. »Er hat niemanden auf der Welt«, so Bibi Fellner (Adele Neuhauser). Da hat sie ebenfalls recht, schon sind wir mittendrin. In Wien wird eine Prostituierte ermordet, die mit Versprechungen aus den verarmten Regionen Osteuropas herbeigelockt wurde. Menschenhandel. Wir sind eine Leistungsgesellschaft. Von WOLF SENFF

Mariss Jansons besiegt Stefan Herheim im Duell

Film | DVD: Tschaikowski – Eugen Onegin Tschaikowskis Eugen Onegin gehört zum festen Repertoire der Opernhäuser. In den vergangenen Jahren konnten zwei so unterschiedliche Inszenierungen wie die von Achim Freyer in Berlin und von Andrea Breth in Salzburg die anhaltende Wirkung dieses Bühnenwerks bestätigen. In Amsterdam hat der deutlich jüngere Norweger Stefan Herheim sich seiner angenommen. Herheim ist für seine enigmatischen Inszenierungen bekannt und nicht unumstritten. Er neigt dazu, sich mehr zu denken, als er szenisch zu vermitteln mag. Ohne Erläuterungen ist das Publikum bei ihm oft ratlos. Von THOMAS ROTHSCHILD

Kunst und Technik

Film | Neu auf DVD: Georges Méliès – Die Magie des Kinos und Die Reise zum Mond Am Anfang der Filmgeschichte standen zwei Gattungen, die seither längst vom abendfüllenden Spielfilm an den Rand gedrängt wurden: der Dokumentarfilm und der Trickfilm. Die Brüder Lumière benutzten die neue Erfindung, um Szenen aus der Wirklichkeit festzuhalten: einen in eine Station einfahrenden Zug, Arbeiterinnen, die eine Fabrik verlassen. Dass schon damals »geschwindelt«, Szenen gestellt wurden, ist mittlerweile bekannt. Im Prinzip aber folgten die Lumières dem Anspruch der Fotografie, der sie die Bewegung hinzufügten. Von THOMAS ROTHSCHILD

Familienfluch und Patriotismus

Film | Comedy-Crime | Logan Lucky Was würden Sie tun, wenn Sie in jungen Jahren für ein Land in den Krieg gegangen wären, dabei einen Arm verloren oder eine bleibende Knieverletzung davongetragen hätten und deswegen mit Anfang 30 »aus Versicherungsgründen« jeden Job wieder verlören? Und noch dazu permanentem Spott ausgesetzt wären? Genau das passiert den Logan-Brüdern Jimmy und Clyde aus West Virginia. Doch mit der Geldnot und dem Hohn ist jetzt Schluss! Jimmy Logan hat einen Plan. ANNA NOAH ist höchst gespannt, ob er funktionieren wird.

Der Kaiser der Revolution

Film | Abel Gance: Napoleon/Austerlitz. Glanz einer Kaiserkrone Die Geschichte des Films ist, technisch betrachtet, die Geschichte einer permanenten Annäherung an die Wirklichkeitsillusion. Nachdem Ende des 19. Jahrhunderts aus einer Kombination dreier Erfindungen – der Fotografie, des bewegten Bildes durch eine rasche Abfolge von Phasen und der Projektion, der „Laterna magica“ – der Stummfilm geboren war, suchte man sogleich nach Möglichkeiten, den Ton, die Farbe und den Raum hinzuzufügen. Von THOMAS ROTHSCHILD