Fräulein Susans Gespür für Aufrichtigkeit

Roman | Peter Hoeg: Der Susan-Effekt

Mit dem später von Bille August kongenial verfilmten und insgesamt über sechs Millionen Mal verkauften Roman ›Fräulein Smillas Gespür für Schnee‹ wurde der dänische Autor Peter Hoeg in den frühen 1990er Jahren weltberühmt. Danach hatte sich der öffentlichkeitsscheue Schriftsteller, der ohne Telefon und Fernsehgerät in einem kleinen jütländischen Dorf lebt, noch mit ›Die Frau und der Affe‹ (1996) und seinem geheimnisvollen Roman ›Das stille Mädchen‹ (2007) künstlerisch zu Wort gemeldet. Nun ist sein neuester Roman ›Der Susan-Effekt‹ erschienen. Von PETER MOHR

Hoeg_24904_MR.inddVor fünf Jahren präsentierte Hoegs Roman ›Die Kinder der Elefantenhüter‹ schon eine ziemlich verwegene Mixtur aus Abenteuerroman, Gesellschaftskritik, plumpen Lebensweisheiten und pseudo-romantischen Ausflügen in die Märchenwelt aufgetischt. Nun toppt der 58-jährige Schriftsteller diese gewagte Mischung noch einmal und lässt in ›Der Susan-Effekt‹ nichts, aber wirklich überhaupt nichts an Abenteuerlichkeiten, Absurditäten und Verschwörungstheorien aus.

»Ich rufe Aufrichtigkeit hervor«, offenbart Hoegs Protagonistin Susan Svendsen. Die 43-jährige Experimentalphysikerin besitzt (wie Smilla) eine märchenhafte Gabe. Personen, die sich ihr auf wenige Schritte nähern, werden – wie von Geisterhand herauf beschworen – genötigt, sich ihr schonungslos zu offenbaren. So weit, so abenteuerlich.

Susan Svendsen befindet sich als Unesco-Botschafterin mit ihrer Familie in Indien. Der gesamte Clan gerät dort plötzlich in Schwierigkeiten. Susan wird des Totschlags bezichtigt und sitzt in Haft, ihr Mann Laban, ein erfolgreicher Komponist, vergnügt sich mit einer minderjährigen Fürstin und löst damit den Zorn eines Maharadschas aus, Sohn Harald wird wegen Antiquitätenschmuggels festgenommen, und seine Zwillingsschwester Thit ist mit einem Priester durchgebrannt. Das würde an Stoff für einen actionreichen Unterhaltungsfilm schon ausreichen, doch Peter Hoeg hat anderes im Sinn, will höher hinaus, versteht sich nicht nur als Erzähler, sondern vor allem auch als eine Art Missionar für den Weltfrieden.

Klimawandel, Umweltverschmutzung, Wettrüsten – all das prangert Hoeg mehr oder weniger offen an und predigt die Rückkehr zu tradierten Werten. Und mittendrin bewegt sich die Hauptfigur Susan, die der Smilla Jaspersen aus Hoegs Welterfolg nicht unähnlich ist, mit ihrem untrüglichen Gespür für Aufrichtigkeit.

Nicht nur die Otto-Normalverbraucher plaudern in Susans Nähe (offensichtlich) bereitwillig Intimitäten aus, sondern auch Politiker, Wissenschaftler und Geheimnisträger bekommen in Svendsens Nähe eine lockere Zunge. Das macht Susan interessant und begehrenswert. Ein dänischer Diplomat ermöglicht schließlich der gesamten Familie die Rückkehr nach Kopenhagen. Doch Susan wird in der Folge erpresst, ihr »Retter« droht mit beruflichen Konsequenzen und fordert von ihr die Beschaffung von Sitzungsprotokollen einer sogenannten Zukunftskommission – ein Zusammenschluss renommierter Wissenschaftler, die globale Katastrophen voraussagen können.

Im Umfeld dieses elitären Zirkels ereignen sich in der Folge noch einige dubiose Todesfälle, und angeblich existieren in dessen Dunstkreis sogar Evakuierungspläne für den Fall einer Atomkatastrophe. Danach sollen die 4000 wichtigsten Dänen einen Platz in Afrika finden. Vermutlich sind es – so Hoegs Botschaft zwischen den Zeilen – die korruptesten und moralisch verdorbensten Zeitgenossen, die sich ihr »Überleben« für den Fall der Fälle erkauft haben.

Dieses Buch mag auf herzzerreißende Weise gut gemeint, an Aufrichtigkeit kaum zu übertreffen sein, und doch ist es als Roman hoffnungslos verunglückt. Die Figuren agieren wie Marionetten des Autors, viele Dialoge wirken wie agitatorische Sprechblasen. Dieser diffuse Mix aus Fantasy, Thriller, Märchen, Ratgeberliteratur und Apokalypse liest sich so, als hätten Jules Verne, Rudolf Steiner und Wilhelm Busch in geselliger Runde gleichzeitig daran geschrieben. Mit dem ›Susan-Effekt‹ scheint der Abschied vom seriösen Romancier Peter Hoeg endgültig eingeläutet worden zu sein.

| PETER MOHR

Titelangaben
Peter Hoeg: Der Susan-Effekt
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
München: Carl Hanser Verlag 2015
397 Seiten, 21,90 Euro
Erwerben Sie dieses Buch bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Märchenspielereien

Nächster Artikel

Kommando Erdnuss!

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Eine Straße – eng und elegant

Roman | Marco Balzano: Café Royal

»Ich wähle gern Themen, die unter unser aller Augen sind, aber von der Politik, den Medien verzerrt oder gar nicht angefasst werden«, hatte der italienische Schriftsteller Marco Balzano in einem Interview mit der in Wien erscheinenden Tageszeitung »Die Presse« erklärt. In seinem Roman Ich bleibe hier (2018), dessen Handlung im Vinschgau (Südtirol) angesiedelt ist, hatte er sich mit einem dunklen Kapitel italienisch-deutsch-österreichischer Geschichte auseinandergesetzt. Sein letzter Roman Wenn ich wiederkomme kreiste um das Thema illegale Arbeitsmigration. Von PETER MOHR

Die Erlöserin

Krimi | Bernhard Aichner: Totenfrau Wer möchte schon Brünhilde heißen? Hagen Blums Tochter jedenfalls nicht. Und so beschließt die 16-Jährige, dem Vater, einem bekannten Innsbrucker Bestattungsunternehmer, die Nibelungentreue aufzukündigen und fortan nurmehr unter ihrem Nachnamen aufzutreten. Doch nicht nur in diesem Punkt setzt Blum ihren Kopf durch. Auch der verhassten Adoptiveltern weiß sie sich ein paar Jahre später so raffiniert wie brutal zu entledigen. Und lernt bei der Gelegenheit auch noch den Mann ihres Lebens kennen. Doch wenn das Glück am ungetrübtesten scheint, fangen die Albträume gewöhnlich erst an. Bernhard Aichner neuer Krimi Totenfrau. Von DIETMAR JACOBSEN

Verstaubte Diplome im gelben Aktenkoffer

Roman | Lena Gorelik: Wer wir sind

Manchmal trügt eine Genrebezeichnung. Hinter Lena Goreliks neuestem Roman Wer wir sind verbirgt sich eine authentische Familiengeschichte, ein außergewöhnliches Erinnerungsbuch. Es ist Selbstvergewisserung, Versöhnung und eine späte Liebeserklärung in einem. Denn der Zauber zweier Sprachen eröffnet neue Dimensionen und Erfahrungsräume. Von INGEBORG JAISER

Die fremde Freundin

Roman | Hans Löffler: Letzte Stunde des Nachmittags

Hans Löffler hat mit ›Letzte Stunde des Nachmittags‹ einen grandiosen Roman vorgelegt, der an Dichte und Intensität kaum zu überbieten ist und zuweilen wie ein Gedicht anmutet. Findet FRANK THOMAS GRUB

Das Ungeheuer von Hannover

Roman | Dirk Kurbjuweit: Haarmann

»In Hannover an der Leine,/ Rote Reihe Nummer 8,/ wohnt der Massenmörder Haarmann,/ der schon manchen umgebracht«, heißt es in einem populären Schauerlied aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Es bezieht sich auf den bekanntesten Serienmörder Deutschlands: Fritz Haarmann. 1879 in der Stadt geboren, in der er 1923/1924 mindestens 24 Morde beging, verurteilte ihn, nachdem man seiner habhaft geworden war, ein Schwurgericht im Dezember 1924 zum Tode. Das Urteil wurde im April des darauffolgenden Jahres vollstreckt. In der Kunst (Literatur, Film, Bildende Kunst, Musik) lebt Haarmann freilich bis heute weiter. Nun hat der gelernte Journalist Dirk Kurbjuweit einen Roman über den »Werwolf von Hannover« geschrieben. Und es gelingt ihm auf faszinierende Weise, den Mörder Haarmann und die mörderische Zeit, in der er lebte, als zwei Seiten einer Medaille darzustellen. Von DIERMAR JACOBSEN