Der ewig suchende Erinnerungskünstler

Roman | Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst

Ein neuer Roman des Nobelpreisträgers Patrick Modiano ist erschienen – ›Damit du dich im Viertel nicht verirrst‹. Eine Rezension von PETER MOHR

Viertel»Es geht in meinen Büchern überhaupt nicht um mein eigenes Leben. Ich benutze nur Empfindungen, die ich gehabt habe, und Stimmungen, in denen ich gelebt habe«, bekannte Nobelpreisträger Patrick Modiano in einem seiner wenigen Interviews. Und doch schreibt der Franzose, für dessen umfangreiches Werk Paris mindestens ebenso wichtig ist, wie es Köln einst für Heinrich Böll war, stets sanft an seinem eigenen (Er)-Leben entlang.

Patrick Modiano, der am 30. Juli 1945 im Pariser Vorort Boulogne-Billancourt als Sohn eines italienisch-jüdischen Kaufmanns und einer flämischen Schauspielerin geboren wurde, fand in den 1960er Jahren durch eine Begegnung mit Raymond Queneau zur Literatur, debütierte 1968 mit La Place de l’étoile, verfasste seitdem 27 weitere Romane und wurde 1985 von Peter Handke, der viele Modiano-Bücher übersetzte, für den deutschen Buchmarkt entdeckt. Im letzten Herbst erhielt der zurückhaltende Franzose durch die Stockholmer Akademie den Ritterschlag in Form des Nobelpreises. Ausgezeichnet wurde er »für die Kunst des Erinnerns, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt während der Besatzung sichtbar gemacht hat.«

Wie in fast allen seiner Vorgängerwerke erzählt Modiano auch in seinem neuen Roman keiner Chronologie folgend. Er lässt Raum und Zeit verschwimmen, assoziatives Denken steht im Zentrum. Protagonist des schmalen Büchleins ist Jean Daragane, ein gealterter Schriftsteller, der Modiano nicht unähnlich ist, zurückgezogen in Paris lebt, nur selten seine Wohnung verlässt und kaum Kontakte zur Außenwelt pflegt. Der störende Telefonanruf, mit dem Modiano die Handlung einleitet, erweist sich im Nachhinein als gravierende Zäsur in Daragnes Alltag.

Ein Fremder namens Gilles Ottolini hat das Adressbuch des Schriftstellers gefunden. Die beiden Männer treffen sich wenig später in einem Café, Ottolini gesteht, im Heft geblättert zu haben und über einen Namen gestolpert zu sein, der ihm bei der Arbeit an einem Kriminalfall begegnet sei. Und so wird jener Guy Torstel in der Folge für Daragne zur Obsession. Ottolini stellt bohrende Fragen und konfrontiert sein Gegenüber damit, dass der Name in seinem ersten Roman aufgetaucht sei.

Daragne kann sich zunächst nicht erinnern, erst daheim fügen sich viele kleine Vergangenheitsmosaike zusammen. Er glaubt, als Kind diesem Mann auf der Rückfahrt von einer Pferderennbahn begegnet zu sein. »Wie ein Insektenstich, der dir zunächst ganz leicht vorkommt«, beschreibt Daragne den aufkommenden, zunächst kaum spürbaren Schmerz, den der Eintritt in die Kindheitserinnerungen auslöst.

Verlust und Erinnerung sind auch im jüngsten Roman des Nobelpreisträgers wieder zentrale Bausteine. Der Tod von Modianos jüngerem Bruder Rudy, der als Neunjähriger an Leukämie starb, zieht sich wie ein roter Faden durch das Oeuvre. In der Folge haben sich auch die Eltern getrennt. Und so lässt Modiano seine Hauptfigur Daragane auch auf Eltern zurück blicken, die kaum Zeit für ihn hatten und ihn in die Obhut von Annie Astrand gaben – eine Varitétänzerin, die in die Rolle eines fürsorglichen Kindermädchens schlüpfte. Jene Annie drückte einst dem kleinen Jean einen Zettel mit der gemeinsamen Adresse in die Hand und hatte auf der Rückseite notiert: »Damit du dich im Viertel nicht verirrst«.

Modiano evoziert eine einzigartige Stimmungsmelange aus Traum und Erinnerung; er zieht den Leser bei der schmerzlichen Reise in die Kindheit auf ganz singuläre Weise ins Buch. Eine Art Leichtigkeit der Gedankenschwere zeichnet diese Prosa aus. Modiano ist ein Ewig-Suchender, ein penibler Selbsterkunder und hoch artifizieller Erinnerungskünstler, ein neugieriger künstlerischer Kartograph, der immer wieder aufs Neue den Mikrokosmos vor der eigenen Haustür vermisst und dabei stets neue Perspektiven entdeckt.

| PETER MOHR

Titelangaben
Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
München: Carl Hanser Verlag 2015
160 Seiten. 18,90 Euro
Erwerben Sie dieses Buch bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Rettende Missverständnisse

Nächster Artikel

Der durch die Hölle ging

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Nicht ganz bei Trost

Roman | Christian Kracht: Eurotrash

Der Schriftsteller Christian Kracht lässt es wieder krachen und inszeniert – zweieinhalb Jahrzehnte und fünf Romane nach seinem Debüt Faserland – einen grotesken Roadtrip mit einer medikamentensüchtigen, alkoholkranken und dementen Mutter durch eine trostlose Schweiz der Gegenwart. Eurotrash nennt sich sein neuestes Werk, das in diesem Frühjahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Von INGEBORG JAISER

Mit Frechheit gegen die Angst

Roman | Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee

»Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt.« Mit diesem bedeutungsvollen Satz leitete Ralf Rothmann vor sieben Jahren seinen in 25 Sprachen übersetzten Roman ›Im Frühling sterben‹ ein, der den Auftakt seiner nun beendeten Romantrilogie über das wenig freudvolle Leben seiner Eltern machte. Von PETER MOHR

Hass plus Wehmut gleich Liebe?

Roman | Toni Morrison: Liebe

Toni Morrisons neuer Roman ›Liebe‹ ist eine Geschichte um einen Frauenschwarm, der auch dann noch das Leben seiner Anbeterinnen bestimmt, als er längst tot ist. Vor diesem Hintergrund entwirft die Autorin beeindruckende Frauenpsychogramme. Von BARBARA WEGMANN

Von Hölzken auf Stöcksken

Roman | Hubert Winkels: Die Hände zum Himmel

Der ehemalige Redakteur des Deutschlandfunks und Literaturkritiker Hubert Winkels feiert seinen 70. Geburtstag mit einem alle Genres und religiösen Erfahrungen sprengenden Mammutwerk. Von seiner puren Sprachgewalt, seinem elaborierten Plaudern über Gott und die Welt entzückt, streckt auch der Leser begeistert Die Hände zum Himmel. Von INGEBORG JAISER