Vom Golem der auszog, Freunde zu finden

Comic | Anke Kuhl: Lehmriese lebt!

Ist es Comic? Oder ein Kinderbuch? ›Lehmriese lebt‹ der renommierten Illustratorin Anke Kuhl ist schlicht und ergreifend beides: Eine wahrhaft kindgerechte Comiclektüre und ein fröhlich-freches Abenteuer für den Start ins Lesealter, an dem auch BORIS KUNZ noch seine Freude hatte.

LehmrieseZwei ausgelassene Kinder (nur aus dem Klappentext erfahren wir, dass sie Olli und Ulla heißen könnten) bauen aus dem »schönen, fettigen Lehm« einer Flusskehre einen dicken Riesen. Sie ahnen nicht, dass sie damit ungewollt ein zauberisches Wesen erschaffen: einen Golem. Am nächsten Morgen ist der Golem erwacht und folgt der Spur seiner Schöpfer in einen beschaulichen, kleinen Ort mit malerischer Altstadt. Dort ist es dann bald vorbei mit der Ruhe, denn wo immer der Golem auch hinkommt, richtet er erhebliches Chaos an – egal, ob er versucht, dem Förster beim Ausreißen unerwünschten Unterholzes zu helfen, ein Eis zu kaufen oder eine Friseurlehre anzufangen.

Anarchie mit Herz

Der Golem hat nämlich noch nicht gelernt, die Welt um sich herum zu begreifen. Er ist bereit, zuzupacken, kann aber nur durch Nachahmung lernen und versteht überhaupt nicht, was er da tut und warum alle Leute über das Ergebnis seiner Bemühungen in helle Aufregung geraten. Das auf diese Weise vorprogrammierte Chaos bestreitet auf unterhaltsame Weise die erste Hälfte des Buches. Doch es bleibt nicht bei einer spaßigen Nummernrevue, denn schließlich wird der Golem wütend, beginnt im Supermarkt zu randalieren und plötzlich nicht mehr versehentlich, sondern ganz absichtlich Chaos zu stiften.

Dies ist ein irritierender und unerwarteter Wendepunkt in der Geschichte, denn auf einmal ist der Lehmriese dem Leser nicht mehr zugänglich. Wir verstehen den Grund seiner Wut nicht, und Olli und Ulla, die sich ihrer Schöpfung in kindlicher Neugier an die Fersen geheftet haben, müssen begreifen, dass sie eine Naturgewalt auf die Stadt losgelassen haben. Ganz subtil, ohne jeglichen erklärenden oder gar moralisierenden Zeigefinger stellt sich die Frage, ob die beiden Kinder den Mut haben werden, sich der Verantwortung für ihr Geschöpf zu stellen.

Die Auflösung, so viel sei verraten, ist natürlich versöhnlich, und letztendlich wird eine zertrampelte Dose Majo, eine in ihrer eigenen Auslegeware gestrandete Fischfachverkäuferin, ein zerdeppertes Fahrrad und die empfindlich beschädigte Ehre zweiter tölpelhafter Feuerwehrleute der größte angerichtete Schaden sein, ehe sich alles zu einem friedvollen Ende wendet. Kein Wunder – richtet sich die Kinderbuchillustratorin Anke Kuhl mit ihrem ersten Comicprojekt doch an die jüngsten Comicleser, die zwar schon Spaß am Lesen haben, denen aber ›Hilda‹ vielleicht noch eine Spur zu gruselig und der Humor von ›Donald Duck‹ noch etwas zu unzugänglich ist.

Märchenwesen an der Supermarktkasse

Um den Spaß am Lesen und Entdecken zu erhöhen, werden die Comicszenen in regelmäßigen Abständen von liebevoll gestalteten, ganzseitigen Inserts unterbrochen, wie etwa einem Plakat mit fantasievollen neuen Eissorten oder der Bedienungsanleitung für einen Feuerwehrschlauch. Schön ist auch, dass das Album Jungen und Mädchen gleichermaßen anspricht (ein in der Welt der Jugendcomics ja eher seltenes Phänomen) und seine Leserschaft auch nicht mit Weichspüler für dumm verkauft. Ohne, dass daraus großes Aufheben gemacht wird, sind Ulla und Olli beim Bauen ihres Lehmriesen splitterfasernackt zu sehen, und auch wenn das Album mit anthropomorphen Tieren (wie etwa einer Kuh als Eisverkäufer) oder wandelnden Klischees (der mürrische Förster mit Gamsbart am Hut und Schnauzer im Gesicht) bevölkert ist, stammen durchaus nicht alle Gestalten aus dem Kasperletheater: Der Kommissar, der schließlich die Spur des Lehmriesen aufnimmt, ist kein cholerischer Wachtmeister mit Pickelhaube, sondern ein lässiger und besonnener Ermittler in Zivil, den man auch in einem ›Tatort‹ ernst nehmen würde.

Die Welt, die Anke Kuhl erschaffen hat, lässt Phantastisches und Alltägliches kommentarlos nebeneinander existieren: Ein Golem, dessen Kopf ohne Hals über seinem Körper schwebt, und ein Herr mit einem gewundenen Horn auf dem Kopf begegnen sich da in der Schlange an der Supermarktkasse. Selbstverständlich kann auch der Erwachsene über Kuhls Einfälle lachen, doch die Autorin hat dankenswerterweise darauf verzichtet, eine Humorebene einzuziehen, die über die Köpfe der jungen Leser hinweg mit den Eltern kokettiert.

Die liebevollen Zeichnungen sind mit Wachsstiften koloriert und erkennbar »handgemacht« und sprechen sicherlich auch schon Kinder im Vorlesealter an. Das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die eigenständige Lektüre des Comics auch für Leseanfänger eine kleine Herausforderung darstellt: Die teilweise etwas schiefen, handgeletterten Texte der Sprechblasen erfordern Konzentration. Die langen, ausführlich erzählten Sequenzen beim Friseur, im Supermarkt oder der Showdown auf dem Glockenturm belohnen die Leser, die sich die Zeit lassen, den Verlauf der Handlung Bild für Bild nachzuvollziehen. Die lustige und zunächst sehr unbeschwerte Geschichte, die gegen Ende immer mehr Fahrt aufnimmt und immer größere Spannung entwickelt, sollte gerade den Comicanfänger jedoch ausreichend für diese Mühe entschädigen.

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Anke Kuhl: Lehmriese lebt!
Berlin: Reprodukt 2015
96 Seiten, 18 Euro
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Reinschauen
| Leseprobe
| Über die Zeichnerin Anke Kuhl
| Homepage von Anke Kuhls Ateliergemeinschaft
| Anke Kuhl bei Perlentaucher

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