Comic | Manu Larcenet: Blast 1 – 4
Diesen Sommer ist bei Reprodukt der vierte, abschließende Band von Manu Larcenets ›Blast‹ in deutscher Sprache erschienen. Das mitreißende, 800 Seiten starke Psychogramm eines Außenseiters ist eine Offenbarung, wie sie einem nur selten begegnet. Von CHRISTIAN NEUBERT
Nix mit dem guten alten »Guter Bulle, böser Bulle«-Spiel: Die beiden Polizisten, die den unförmig aufgequollenen Riesen verhören, sind angehalten, ihm mit Geduld zu begegnen. Er könnte mauern, heißt es, wenn sie ihn bedrängen und zu hart angehen. Das psychiatrische Gutachten stuft ihn als mutistisch und störrisch ein. Dabei muss er auspacken. Die Behörde braucht mehr als sein Geständnis. Nach Möglichkeit braucht sie seine Geschichte. Sie soll die Geschehnisse hinter dem Fall Carole Oudinot erhellen. Was mag er ihr nur angetan haben, dieser unappetitliche Fleischberg namens Polza Mancini?
Manu Larcenets ›Blast‹ zeichnet eine vier Bände lange Verhörsituation nach. Das abgedroschene Bullenduo auf der einen, der vermeintliche Totmacher auf der anderen Seite des Tisches. Sie? Angewidert. Er? Widerlich. Aber ein Mörder? So wirklich will man es nicht glauben. Schon bald hat er einen für sich gewonnen. Mancini erscheint definitiv wie ein Spinner. Ein abstoßender, durchgeknallt-entrückter, aber harmloser Spinner. Gewalt traut man ihm, allerorten zum Opfer gemacht, nur gegen sich selbst zu. Zumal sein Antlitz viel Sanftmut ausstrahlt, wenn er Geduld und Verständnis erfährt. Verstand hat er eh, dieser verwahrloste Poet der Wildnis: »Hütet euch vor dem geschriebenen Wort. Hinter seiner Erhabenheit steckt doch immer nur die Wahrheit desjenigen, der den Stift führt.«
Das Opfer, ein Täter?
Zur Überraschung der Polizisten gibt sich Mancini, einst ein recht erfolgreicher Autor von Speiseführern, nicht gerade verschlossen. Im Gegenteil: Er ist sehr redselig. Er offenbart seine von dramatischen, ja drastischen Momenten gezeichnete Lebensgeschichte. Lückenhaft zwar, aber geistreich, einsichtig und kohärent trotz allen offensichtlichen Wahns. Nach dem Tod seines Vaters flieht er in die Einsamkeit der Wälder und Flure. Er begreift das als ein Loslösen von Fesseln, für das er zuvor nicht stark genug war. Er will weg von der Gesellschaft, die ihn, wie er weiß, auch dann noch verachtet, wenn er sich ihren Normen unterwirft. Vor allem aber will er das wieder erleben, was er als »Blast« bezeichnet. Jenen Zustand, der ihn das erste Mal ereilte, als er sich in ein Delirium aus Alkohol und Schokolade flüchtete.
Der Blast ist ein wahnhafter Rausch, der ihm wie ein flüchtiger Einblick in das Wesen der Welt erscheint und in dem er sich der Last seines massigen Körpers entledigt fühlt. Das Streben nach und die Hoffnung auf den nächsten Blast hilft ihm, die Natur, deren Bestandteil er wird, romantisch zu verklären. Denn obwohl es ihm um die Einsamkeit der Wälder, um Kontemplation und um Auf- und Loslösung geht: Stets ist er mit Alkohol vollgepumpt. Und sobald die Natur ihre winterlich-kalte Fratze zeigt, zieht es ihn in die schützende Wärme menschlicher Zivilisation.
Die Freiheit, eine Flucht?
Doch auch in der sommerlichen Abgeschiedenheit der Natur gerät er immer wieder an Menschen. An Aussteiger, Verzweifelte, Verbrecher, Spinner. Sie gestalten seinen Weg maßgeblich mit. Einen Weg, der von Larcenet in eine expressive, finstergraue Optik getaucht wird, deren nuancierte Schatten sich wie ein symbolisch aufgeladener Schleier aus Melancholie, Verstörung und Verzweiflung, aber auch aus Hoffnung und finalem Sinn über die Bilder legen. Manchmal steuert Kunst der verfallen-verletzlichen Welt des Antihelden Mancini ein paar bunte Akzente bei. Ansonsten begegnen ihm Farben nur im Blast. Dann allerdings in unbeschwerter Reinheit, losgelöst von künstlich-künstlerischen Kontexten, bar jedweder Notwendigkeit. Larcenet überwindet diese Diskrepanz mit Buntstiftzeichnungen seiner Kinder. Der französische Künstler weiß, dass gerade in der Naivität kindlichen Gekrakels eine Art Unmittelbarkeit des Ausdrucks liegt.
Im Sommer dieses Jahres ist nun der finale vierte Band von ›Blast‹ erschienen. Er bringt dieses Monster von einer Comic-Erzählung zu einem Ende, auf das es im Grunde von Anfang an zusteuert. Nur hat Larcenet es konsequent verstanden, seine sorgfältig gestreuten Hinweise nie allzu offensichtlich in dieses einmalige Psychogramm eines Außenseiters einzuweben. Verdachtsmomente bleiben hinter Mitleid verschollen, das Dunkel der Wälder verbirgt erhellende Momente.
Hat man die einzelnen ›Blast‹-Bände durch, hat man nicht nur eine herausragende Comic-Erzählung gelesen: Man ist um eine Erfahrung reicher. Selten hat eine derart abstoßende Hauptfigur auf vergleichbare Weise fasziniert, selten ein Ungeheuer tiefer in seine abgrundtiefe Schwärze blicken lassen, selten ein Comic intensiver gepackt. Das rund 800 Seiten lange, auf vier Bände verteilte Werk ist eine Offenbarung.
Titelangaben
Manu Larcenet: Blast 1 – 4
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock
Berlin: Reprodukt, 2012–2015
Je 208 Seiten, je 29 Euro
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