Flucht in ein freies Leben

Comic | Pénélope Bagieu: Unerschrocken Bd. 2

Mit Wut und Kampfesgeist werden Frauen von der Hausfrau zur Heldin. Pénélope Bagieu hat im zweiten Band ihrer Graphic Novel ›Unerschrocken‹ wieder 15 von ihnen porträtiert. Spannende und humorvoll erzählte Lebensgeschichten, zwischen Tragik und Mut, sind dabei entstanden. Von BIRTE FÖRSTER

Bagieu - Unerschrocken 2Sie rennt einfach los. Runde um Runde legt Cheryl Bridges auf dem Sportplatz ihrer Schule zurück und wird dabei immer schneller. Nicht nur kilometerlange Strecken lässt sie hinter sich, sondern auch den schwierigen Alltag: den Missbrauch durch den Stiefvater sowie ihre eigenen Selbstzweifel. »Bei jedem Training empfindet sie wieder dieses unglaubliche Gefühl, ihr Leben selbst zu bestimmen und unbesiegbar zu sein«, beschreibt Comiczeichnerin Pénélope Bagieu im zweiten Band ihrer Graphic Novel ›Unerschrocken‹ Cheryls Weg zu einer erfolgreichen Sportlerin.

Als erste Frau in den USA erhält sie ein Sportstipendium und hangelt sich von Meisterschaft zu Meisterschaft. Sie wird eine der besten Langstreckenläuferinnen der Welt. Dabei stehen ihr so viele Hindernisse im Weg: wie die gesellschaftlichen Gepflogenheiten, die es Mädchen in den 60er Jahren verbietet, derartigen Sport zu betreiben. Und manchmal im wahrsten Sinne des Wortes: Bei einem Marathonlauf will sich einer der Läufer nicht von einer Frau überholen lassen und stellt sich ihr in den Weg. Doch die wütende Cheryl kommt an ihm vorbei und bricht den damaligen Weltrekord.
Die Überwindung derartiger Hindernisse steht als Metapher für diverse andere Erlebnisse von Frauen, die Pénélope Bagieu in ihrer Graphic Novel beschreibt. Wieder begibt sich die französische Comiczeichnerin auf die Suche nach erfolgreichen Frauen in der Geschichte sowie der heutigen Zeit. Wieder liefert sie in kurzen und pointierten Zeichnungen auf wenigen Seiten die wichtigsten Etappen eines Lebens, bewegt sich gekonnt zwischen humorvoller Leichtigkeit und der Schilderung tragischer Momente.

Der zweite Band ist somit keinesfalls eine abgeschmackte Version des ersten. Erneut überrascht Bagieu mit gelungenen Einfällen und eindrucksvollen Lebenswegen von Frauen aus unterschiedlichen Ländern und Zeiten. Man merkt: Es könnte immer so weiter gehen. Derart vielfältig sind die Lebensgeschichten, die oft über Umwege zum Ziel führen. Es sind Biographien, wie sie auch bei Männern nicht unüblich sind: Frauen werden Astronautin, Forscherin, Rapperin oder Anwältin. Nur eben, dass – ganz anders als bei Männern – ihre Lebensläufe oft weniger geradlinig verlaufen, ihr Streben nach Erfolg oft nicht anerkannt wurde.

Eine werktätige Frau galt als unnatürlich

Denn schließlich galt lange Zeit – und in vielen Ländern leider noch immer: »Mädchen gehören ins Haus. Sie sollen nähen und sich um die Kinder kümmern. Sonst gerät die Gesellschaft aus den Fugen. Eine werktätige Frau ist wider die Natur«, wie in einem amerikanischen Zeitungsartikel im ›Pittsburgh Dispatch‹ Ende des 19. Jahrhunderts zu lesen ist. Aber die vermeintliche Allmacht des Patriarchats ist nicht unumstößlich. Viele Frauen begehren auf. So wie Nelly Bly, die sich Ende des 19. Jahrhunderts als Journalistin die männliche Sphäre des politischen und investigativen Journalismus erobert. Mit der sogenannten Frauen-Rubrik, die Texte über das Gärtnern sowie Schnittmuster vorsieht, gibt sie sich nicht zufrieden. Ein von Bagieu gezeichnetes Wutbarometer zeigt in aller Deutlichkeit an, was die Journalistin von solchen Kategorien hält.

Nicht nur die individuellen Lebenswege und Kämpfe der Frauen gegen ihre vorbestimmte Rolle sind es, die die Lektüre des Comics spannend und abwechslungsreich machen, sondern auch der Einblick in ganz unterschiedliche Berufe – und zum Teil sehr exotische: Das trifft wohl mehr als alles andere auf die Amerikanerin Frances Glessner Lee zu, die als Puppenstubenforensikerin in die Geschichte eingegangen ist.

Als frustrierte Hausfrau und Mutter dreier Kinder beginnt sie, sich für das zum Ende des 19. Jahrhunderts noch junge Fach der Rechtsmedizin zu interessieren. Frances – genannt Fanny – erkennt, wie wichtig die präzise Untersuchung von Tatorten ist, um diverse Mordfälle aufzuklären. Es folgt der Umbruch: Nach 16 Ehejahren lässt sie sich scheiden und wird aktiv. Sie gründet die ›Harvard Associates in Police Science‹ und bringt Polizisten und Medizinern in Seminaren bei, die Spuren an einem Tatort zu lesen. Aber ohne einen realen Schauplatz gestaltet es sich als schwierig, die Schüler für die Praxis auszubilden.

Fanny hat einen genialen Einfall: Wie sie es von früheren Puppenhäusern kennt, reproduziert sie diverse Tatorte in kleinen Miniaturwelten. Dabei lässt sie kein Detail aus. Ihr erstes Diorama mit dem Titel ›Der erhängte Farmer‹ baut sie in der Größe einer Puppenstube nach. Den Schauplatz des Verbrechens, die Küche des Hauses, bildet sie als Miniaturraum mit allen Details wie winzigen Geschirrhandtüchern und Kartoffelschalen im Aufguss nach. Später haben ihre Schüler die Gelegenheit, den Ort des Verbrechens zu inspizieren. Fanny hat Erfolg: Nach und nach übernehmen die Polizeischulen im ganzen Land ihre Methode und noch heute kommt diese zum Einsatz.

Noch heute bestimmen Unterdrückung und Zwangsehe das Leben vieler Frauen

Bagieu hat in ihrer Graphic Novel solche letztlich heiteren Geschichten parat. Aber auch tragische Schicksale, in den Frauen oder junge Mädchen Opfer von brutaler Gewalt werden, gibt sie ungeschönt wieder. Es sind Themen wie Vergewaltigungen, Zwangsehe und Unterdrückung, die noch heute das Leben vieler Frauen in manchen Ländern bestimmen.

So beschreibt Bagieu das Leben der indischen Banditenkönigin Phoolan Devi, die, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, bereits mit elf Jahren die Hölle aus Zwangsverheiratung und Massenvergewaltigungen erlebt. Nachdem sie drei Tage lang, gefesselt an einen Stuhl, zwölf Polizisten ausgeliefert ist, die sich einer nach dem anderen an ihr vergehen, kehrt sie nach Hause zu ihren Eltern zurück. »Sie fühlt sich wie versteinert«, beschreibt Bagieu ihre Situation und lässt sie mit leerem Blick sagen: »Mama, warum hast du mich auf die Welt gebracht? Warum hast du mich nicht getötet, wenn das Leben eines Mädchens so ist?« Als Ausgestoßene wird sie später zur Rächerin und tötet zahlreiche ihrer Peiniger. Trotz ihres harten Lebens zieht Phoolan 1996 ins Parlament ein, setzt sich für die Rechte der Frauen und der Armen ein und wird für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Unerschrocken2 - Leseprobe

Trotz oder vielleicht auch gerade durch die Leichtigkeit von Bagieus Zeichenstil berühren solche Geschichten. Und sie bergen noch eine ganz andere Botschaft: Dass so viel Tragik, Brutalität und Unterdrückung eben auch nicht immer zum Erfolg führen können. Dass nicht jede Frau die Kraft hat, wütend und gestärkt solchem Erleben zu entfliehen. Dass manche eben auch daran zugrunde gehen oder sich resigniert ihrem Schicksal ergeben.

| BIRTE FÖRSTER

Titelangaben
Pénélope Bagieu: Unerschrocken Bd. 2
Übersetzt von Claudia Sandberg und Heike Drescher
Handlettering von Olav Korth
Berlin: Reprodukt 2018
168 Seiten, 24 Euro
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| Rezension des ersten Bandes in TITEL kulturmagazin

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