Viktoria und die Brandstifter

Roman | James Gordon Farrell: Die Belagerung von Krishnapur

In der aktuellen politischen Situation, in der eine Regierung Truppen aus einem bürgerkriegszerstörten Land abzieht, weil es dort nicht gewinnen kann und keine Mentalitäten ändern wird, mutet James Gordon Farrells erstmals 1973 erschienener Roman Die Belagerung von Krishnapur nahezu prophetisch an. Das Schicksal einer sich der Realität verweigernden Gesellschaft, die sich der Häme des Betrachters preisgibt und trotz Rettung tragisch zugrunde geht, ist weniger berührend als vielmehr verstörend. VIOLA STOCKER begibt sich ins Sanatorium der Zivilisation.

Krishnapur.bigGeorge Fleury, ein junger Brite der Oberschicht, reist 1857 mit seiner verwitweten Schwester Miriam in die britische Kronkolonie Indien. Der Romantiker ist beauftragt, über den positiven Einfluss der Zivilisation auf die rückständige Bevölkerung zu berichten und hofft, seine Schwester über deren Verlust hinweg helfen zu können.

Sie wohnen in Krishnapur, einem halbvergessenen Außenposten der Ostindienkompanie, verwaltet vom strengen puritanischen Collector Hopkins und seinem Magistrate, dem Sozialisten und Menschenverachter Tom Willoughby.

Verstörende Komik

Titel und einführende Zeilen des ersten Teils verraten bereits, was die Protagonisten bis zum Schluss nicht wahrhaben wollen: Ein Land will seine Besatzer nicht mehr, deren Kultur nicht, deren Religion nicht. Ein fiktiver britischer Reisegast wird durch die unwirtliche Landschaft um Krishnapur geführt, aus deren halb verfallenen Mauern das Anwesen des Collectors in seiner Britishness nahezu lächerlich hervorragt. Weder Säulen noch Backstein noch Ziegel sind für das raue Wetter der Region gedacht, während sich die Zelte und Hütten der Bauern, an Mimese erinnernd, in die Landschaft einfügen.

Während der Collector Literaturabende hält, Fleury sich in Louise, die Tochter des Stabsarztes, verliebt und auf Abendgesellschaften schwitzt, kursieren Gerüchte über Unruhen innerhalb des Heeres, da die Eingeboreneneinheiten, Sepoys genannt, aus religiösen Gründen bestimmte Armeepraktiken verweigern. Niemand misst den Gerüchten Bedeutung bei, der Glaube, überlegen zu sein, ist viel zu sehr verwurzelt. Ausgerechnet der Collector misstraut dem Frieden und lässt unter dem Gespött der höheren Gesellschaft seine Residenz befestigen.

Blinde Arroganz

Herablassend begegnen die Briten einem Volk, dem sie zahlenmäßig unterlegen sind. Als Fleury und Harry Dunstaple, Sohn des Stabsarztes, den Maharadscha von Krishnapur besuchen, schwärmt dessen Sohn Hari für die britische Zivilisation in blinder Nachahmung. Fleury und Dunstaple würdigen ihn keines Blickes und vertun die Gelegenheit, sich mit lokalen Herrschern zu verbünden. Picknicks im Park und Vorträge über die Weltausstellung und den Wert der Zivilisation florieren, während in Nachbarsorten britische Familien ermordet werden.

Als die Unruhen Krishnapur erreichen, ist es fast zu spät. Einzig der von allen belächelte Collector hat sich mit der Verteidigung der Residenz befasst, in die nun alle ansässigen Briten fliehen. Die Sepoyarmee kann die Residenz nicht einnehmen, doch die darauf folgende Belagerung verändert für die Verteidiger alles. Jeder einzelne Charakter erfährt auf den nächsten vierhundert Seiten einen grundlegenden Paradigmenwechsel, vieles verliert an Bedeutung.

Verfall der Zivilisation

Die augenscheinlichste Metapher, derer sich Farrell bedient, ist der Verfall der Zivilisation mittels der langsamen und unaufhaltsamen Zerstörung der Residenz. Harry Dunstaple und Fleury können anfangs bei der Verteidigung noch auf Munition und Kanonen zurückgreifen, doch bald ist alles aufgebraucht, ein Kontakt zur Außenwelt wegen der rebellierenden Sepoylinien nicht möglich. Während der pragmatische Collector in Blei gegossene Büsten von Shakespeare und Keats zu Kanonenkugeln umfunktionieren lässt, wird das Essen knapp.

Plötzlich wuchern Betrug und Bestechung, die Ladies leiden unter Läusen und tragen keine Strümpfe mehr, der Kaviar ist alle, die Wäsche muss selbst gewaschen werden und erste Fälle von Cholera dezimieren die Besatzung. Ausgerechnet Lucy, ein gefallenes Mädchen und von den Damen wie eine Aussätzige behandelt, wird zur Heldin. Sie kann schließlich kochen, nähen und Patronen formen. Fleurys Schwester Miriam kultiviert ihren Pragmatismus und schwarzen Humor beim verrufenen schottischen Armeearzt Dr. McNab, dem sie auf der Krankenstation hilft.

Elend und Hoffnungslosigkeit

Die Belagerung von Krishnapur währt sechs Wochen. Viele sterben, aus dem zivilisationskritischen Romantiker Fleury wird ein harter Soldat, aus dem Zivilisationsfanatiker Hopkins ein kritischer Menschenverachter. Prinz Hari wird als Faustpfand inhaftiert, erst als die Sepoys sich offensichtlich nicht um die Geisel scheren, wird er freigelassen und verbündet sich mit dem Feind. Eine Entsatzarmee ist nicht in Sicht, die Belagerten setzen sich vermehrt mit ihrem bevorstehenden Tod auseinander. Die Verteidigung der Residenz gerät zur permanenten Verzweiflungstat, in der Lyrikbände, Besteck und ein Konzertflügel Verwendung finden.

Als nach den heißen Sommermonaten endlich eine Entsatzarmee anrückt und den Sepoyaufstand blutigst niederschlägt, ist nichts wie vorher. Die eintreffenden Soldaten ekeln sich vor den aller Bürgerlichkeit beraubten Belagerten. Louise und Lucy haben ihre Attraktivität verloren. Doch Dr. McNab, der nach dem Choleratod seiner Frau den Menschen als Patienten und Versuchskaninchen sieht, findet dank der tatkräftigen und pragmatischen Hilfe von Miriam zurück unter die Lebenden.

Dr. Dunstaple, das Fähnlein der überlegenen britischen Wissenschaft hoch haltend, stirbt am eigenen Starrsinn. Die schöne Louise, aller Weiblichkeit beraubt, heiratet den treuen Fleury während Harry das gefallene Mädchen ehelicht. Fleury und der Collector reisen zurück nach England, die Belagerung wird zum Alptraum, der sie trotz seiner Unwirklichkeit ein Leben lang verfolgt und verändert. Der britischen Gesellschaft bleibt eine Wunde, Indien wird als Kolonie einverleibt und kann sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig befreien.

| VIOLA STOCKER

Titelangaben
James Gordon Farrell: Die Belagerung von Krishnapur
Aus dem Englischen von Grete Osterwald
Berlin: Matthes und Seitz Verlagsgesellschaft 2015
474 Seiten. 24,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Slapstick, Zuckerguss und – moralisch wackelig

Nächster Artikel

Ch(i)ef gesucht, Teilzeit

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Suche nach Heimat in der Fremde

Roman | Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum

Die Autofiktion, diese kaum klar zu definierende Mischung aus Autobiografie und Fiktion, hat in dieser Buchsaison Hochkonjunktur bei Autoren und Autorinnen unterschiedlichen Alters und Provenienz. Julia Franck (51) hat sich mit ihrer beschwerlichen Jugend auseinander gesetzt, Hanns-Josef Ortheil (70) beschrieb, wie er sich nach einer schweren Herzoperation wieder zurück ins Leben gekämpft hat, und Emine Sevgi Özdamar legt mit ihrem ebenso opulenten wie ausschweifenden Band ihr gesamtes Leben und ihr künstlerisches Schaffen im Spagat zwischen zwei Kulturen offen. Von PETER MOHR

Eine wahre Heldin

Jugendbuch | Ann Petry: Harriet Tubman

Harriet Tubman wurde um 1820 in Maryland in einer fensterlosen Hütte auf der Brodas-Plantage als Araminta Ross, der Tochter von Harriet Greene und ihrem Ehemann Benjamin Ross geboren. Aus dem kleinen Mädchen wurde die wohl bekannteste Fluchthelferin der Underground Railroad. Eine wahre Geschichte, die nicht in Vergessenheit geraten sollte, findet ANDREA WANNER

Morde, die keine waren

Roman | Jack London: Mord auf Bestellung Es lebe das Dezimalsystem! 2016 hat’s für etwas Flashlight auf Jack London gesorgt: Vor 140 Jahren wurde er geboren, vor 100 Jahren ist er gestorben, der autodidaktische Tausendsassa unter den US-amerikanischen Weltbestsellerautoren – Schwerarbeiter, Weltreisender, Goldsucher, Robbenfänger, Farmer und erklärter Sozialist. 50 Romane und jede Menge kleine Prosa sind die Ausbeute seines Schriftstellerlebens. Von PIEKE BIERMANN

Wahnsinnig verrückte Welt

Roman | Lisa Halliday: Asymmetrie Was haben eine Schriftstelleromanze und ein amerikanisch-irakischer Doktorand in Gewahrsam gemeinsam? Sie »alle leben ein Leben wie im Slapstick, bedroht von der unerklärlichen Strafe des Todes …« Ist unsere Welt wirklich so aus der Balance geraten? Von MONA KAMPE

Einsames Unglück

Roman | Antonio Lobo Antunes: Am anderen Ufer des Meeres

»Was und wie ich schreibe, muss unbedingt etwas mit mir zu tun haben, mit meinen Hirngespinsten und Obsessionen«, hatte der große portugiesische Schriftsteller Antonio Lobo Antunes vor einigen Jahren in einem Interview über sein dichterisches Credo befunden. Seit mehr als zwanzig Jahren wird sein Name in jedem Herbst stets hoch gehandelt, wenn das Rätselraten um die Verleihung des Nobelpreises in die heiße Phase geht. Nun ist der 30. Roman des inzwischen 82-jährigen Portugiesen erschienen, der viele Jahre als Chefarzt einer psychiatrischen Klinik gearbeitet hat. Von PETER MOHR