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Kein Abgesang

Kulturbuch | Wolfgang Sandner: Keith Jarrett. Eine Biographie

Es klingt oftmals nach verfrühtem Abgesang, wenn bereits zu Lebzeiten eines Genies dessen Biographie verfasst wird. Dass Wolfgang Sandners ›Keith Jarrett. Eine Biographie‹ dieses Schicksal nicht teilt, liegt vor allem am Universalkünstler Jarrett selbst. Jedem Kenner ist klar, dass Sandners Biographie ein Resümee eines Schaffenszeitraums sein muss, dem gewiss ein weiterer folgen wird. Für Liebhaber und Neuzugänge wird das Werk eines Künstlers ausgebreitet, der wie kein anderer den Jazz der letzten Jahrzehnte geprägt hat. VIOLA STOCKER ist zutiefst beeindruckt.

JarrettNeugierige werden bei Sandner schnell enttäuscht. Der Musikwissenschaftler verlegt sich früh aufs Fachliche, in der Biographie finden sich nur wenige Anekdoten aus Jarretts Privatleben. Geboren in der »globalen Stunde Null« am 8. Mai 1945 in der kleinen Industriestadt Allentown in Pennsylvania, war Keith Jarrett viel Schicksalhaftes in die Wiege gelegt. Er war der Erstgeborene einer Familie mit europäischen Wurzeln, zeigte bereits mit drei Jahren seine musikalische Begabung und bestritt als Siebenjähriger sein erstes Klavierkonzert mit klassisch – romantischen Klavierstücken.

Vom Klassikpianisten zum Rebell

Jarrett erhielt von Anfang an eine klassische Klavierausbildung, die Orientierung an der europäischen Klassik war dem unangepassten Jazzpianisten immer anzuhören. Vielleicht auch deshalb waren die Europäer von Anfang an ein Wunschauditorium für Keith Jarrett. Legendäre Konzerte, wie solche in Paris und Köln, waren im Dialog mit einem europäischen Publikum aufgenommen worden. Gerade anfangs der sechziger und siebziger Jahre war der amerikanische Jazz noch stark von der Clubatmosphäre geprägt und solistische Improvisationen fanden als Hintergrundgeplänkel in Kneipen statt. Europa bildete hierzu einen angenehmen Gegenpol.

Keith Jarrett hatte das Glück, eine sehr musikalische Mutter, Irma Jarrett, zu haben, die das Talent ihres Ältesten erkannte und förderte. Darüber hinaus war ihr wichtig, ihren Sohn möglichst normal aufwachsen zu sehen und so durfte Keith Jarrett eine Kindheit erleben, in der Musik die gleiche Rolle spielte wie Basketball, Schach oder Tischtennis. Alle Söhne waren sehr musikalisch und verfolgten entsprechende Karrieren, wenn auch Keith Jarrett definitiv der Begabteste der Jarrett – Söhne war. Die Trennung der Eltern jedoch bewirkte eine Neuorientierung Keith Jarretts von der Klassik weg zum Jazz.

Die Ochsentour

Für Keith Jarrett war wohl früh klar, dass Musik sein Broterwerb werden würde. Ebenso deutlich wurde, dass Allentown dafür zu klein sein würde. Als Teenager nahm er am Stan Kenton Summer Camp der Michigan State University teil und spielte in Kleingruppen zusammen mit Musikern und Dozenten der Stan Kenton Band und der North Texas State Faculty. Nach seinem High- School Abschluss nahm er eine Stellung in einem Büro an und erhielt einen mehrwöchigen Job als Pianist in einem Club außerhalb Allentowns.

Es reihten sich Engagements in einer Dixielandband und einer College All Star Band von Don Jacoby. Parallel bewarb er sich für die Berklee School of Music in Boston und wurde als Jazzstipendiat angenommen. Der systematische Unterricht und der konservative Blick auf das Klavierspiel müssen für Jarrett außerordentlich frustrierend gewesen sein. Bereits nach einem Jahr verließ er die Hochschule wieder. Um sich über Wasser zu halten, tingelte er unter anderem durch Cocktailbars und traf seine Jugendliebe Margot Ann Erney wieder. Sie heirateten und gingen nach New York, um ihr Glück zu versuchen.

Der Teamplayer

Nimmt man aufgrund seiner überragenden Solokonzerte Keith Jarrett hauptsächlich als solistisches Improvisationsgenie wahr, tut man dem Jazzmusiker grundlegend Unrecht. Gottlob widmet Sandner einen Großteil seiner Biographie der Arbeit Jarretts in Jazzformationen. Seit 1964 lebte Jarrett in New York, wartete monatelang auf ein Engagement im Village Vanguard und wurde schließlich belohnt. Art Blakey hörte ihn und engagierte ihn für seine New Jazz Messengers für vier Monate.

Jarrett durfte sich hier austoben, im Team genauso wie bei ausführlichen Improvisationen. Schnell fand er seinen Stil, elegant, revolutionär mit dem Korpus des Klaviers arbeitend, eigenwillige Bläserphrasierungen bei Chorusabfolgen. Ebenso schnell kam er an seine künstlerischen Grenzen. Ein Wink des Himmels war daher das Engagement bei Charles Lloyd auf Empfehlung des Schlagzeugers Jack DeJohnette. Charles Lloyd gastierte mit seiner Band im legendären Fillmore West und wurde zum Botschafter eines revolutionären, psychedelischen Jazz.

Die Eroberung Europas

Mit dem Charles Lloyd Quartett eroberte Keith Jarrett Europa. Jeder Auftritt wurde bejubelt, beim Deutschen Jazz Festival in Frankfurt 1966 galten sie als Höhepunkt. Jarrett hatte die Möglichkeit zu ausgeprägten Improvisationen, die Kritiker waren begeistert. Sandner nimmt sich die Zeit, jede einzelne Produktion, die das Quartett auf Schallplatte aufgenommen hatte, zu besprechen und geht genau auf den Klavierpart ein. So wird die Entwicklung Keith Jarretts vom jugendlichen Bilderstürmer zum routinierten Teamplayer deutlich, es zeigt sich aber auch die fortschreitende künstlerische Entwicklung. Kenner wissen heute, dass Jarrett ebenso gern solistisch wie im Ensemble tätig ist.

Parallel begann Jarrett in Trios zu arbeiten, eine konstante Lieblingsbesetzung, bei der auch die Mitspieler nur selten ausgetauscht wurden. Anfangs mit Charlie Haden und Paul Motion, später mit Jack DeJohnette und Gary Peacock, arbeitete Jarrett immer wieder mit zwei gleichberechtigten Musikern an Stücken und Platten, in der kongeniale Künstler eigene Stücke einspielten oder Jazzklassiker neu interpretierten. Als Jarrett mit einem seiner Trios in Paris gastierte, besuchte auch Miles Davis demonstrativ das Konzert und bot Keith Jarrett ein Engagement in seiner Band an. Ab 1970 spielte er regelmäßig mit Miles Davis.

Im Jazzolymp

Seit Mitte der 1970er Jahre war Keith Jarrett aus dem Jazzolymp nicht mehr wegzudenken. Er spielte geniale Konzerte mit Miles Davis und Chick Corea und durfte es der kongenialen Begabung Miles Davis‘ verdanken, dass ihm künstlerisch nur wenig Grenzen gesetzt waren. Gleichzeitig wurde Keith Jarrett unzufrieden mit seiner künstlerischen Leistung, die Fixierung Davis‘ auf elektronische Pianos hatten ihm klargemacht, wie sehr er elektronische Musik ablehnte. Jarrett ging wieder eigene Wege. Unterstützt wurde er dabei von seinem kongenialen Produzenten Manfred Eicher, der auf seinem Label ECM Jarretts Aufnahmen herausbrachte.

Sandners Biographie ist eine erweiterte Werkanalyse und als solche interessant. Er stößt aber dann an eine Grenze, wenn es um Keith Jarretts Schaffenskrise geht. Gesundheitliche und private Probleme sowie Fehlinvestitionen treiben Jarrett in den späten Achtzigern an den Rand des Zusammenbruchs. Hier kann Sandner kaum etwas beitragen, was nicht aus anderen Quellen zu erfahren gewesen wäre. Das ist ein großes Manko einer ansonsten guten Biographie. Die ständigen Querverweise auf Ian Carr, einem offenbar mit Jarretts Vertrauen gesegnetem Biographen, werfen zudem die Frage auf, ob Sandners Biographie überhaupt eine ist bzw. als solche notwendig ist.

Wenig Psychologie

Es fehlt der psychologische Zusammenhang. Dass ein Künstler, der so zurückhaltend ist wie Keith Jarrett, aber auch so verschmolzen mit seinem Werk, eine psychologische Analyse wert ist, steht außer Frage. Hier fehlt aber der Zugang Sandners zum Künstler, den er zwar einige Male besucht, dessen Vertrauen er aber offenbar nicht gewonnen hatte. Die zurückhaltenden Kompositionen Jarretts in den Neunzigern, die kontinuierlichen Ausflüge ins klassische Metier, die selbst auferlegten Fesseln durch Bach, eigene klassische Orchesterkompositionen, Soloimprovisationskonzerte und das Festhalten an eingespielten Triobesetzungen zeigen doch klar, wie sehr Jarrett offenbar sich selbst Grenzen setzen muss, um von der eigenen Kreativität nicht erdrückt zu werden.

Bei fortlaufender Lektüre richtet sich der Fokus unmerklich stärker auf den Künstler, der offensichtlich so sehr von seinem Werk absorbiert wird. Was für ein Mensch ist das? Sandner kann darauf keine Antwort geben. Gleichzeitig muss gerechterweise angemerkt werden, dass, wenn Jarrett nun mal ein derart zurückhaltender Mensch ist, eine Biographie doch auch schwierig, wenn nicht unmöglich zu schreiben ist. Bleibt die Werkanalyse, die Sandner gelingt und in der der Musikwissenschaftler und Fan glänzen kann. Es bleibt aber auch ein schaler Nachgeschmack der Unzufriedenheit. Vom Leben und der Person Keith Jarretts wurde nur wenig gesprochen.

| VIOLA STOCKER

Titelangaben
Wolfgang Sandner: Keith Jarrett. Eine Biographie
Berlin: Rowohlt Verlag, 2015
368 Seiten, 22,95 Euro
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