Das Kind, das schreibt

Roman | Hanns-Josef Ortheil: Der Stift und das Papier

Mit sieben Jahren kann das Kind zwar geübt Klavier spielen, aber nicht sprechen. Den Weg vom stummen Ausgestoßenen zum anerkannten Schriftkundigen und Sprachvirtuosen beschreibt Hanns-Josef Ortheil ergreifend in seinem neuesten Roman. Der Stift und das Papier haben eine tragende Rolle darin. Von INGEBORG JAISER

OrtheilSelbst ausgewiesene Ortheil-Fans und treue Anhänger werden staunen: ist Der Stift und das Papier doch schon das fünfte stark autobiografische und hochgradig authentische Werk des Schriftstellers innerhalb von wenigen Jahren. Doch, wie er selbst zugibt: dasjenige, das er mit der größten Anspannung geschrieben hat. Als Fortsetzung, Vertiefung von und Auseinandersetzung mit der 2009 erschienenen Erfindung des Lebens umkreist es die Kindheitsjahre eines lange stummen Knaben, der über das Schreiben(lernen) den Zugang zur Welt findet.

Hanns-Josef Ortheil wird 1951 in Köln als Sohn eines naturverbundenen Geodäten und einer klavierspielenden Bibliothekarin geboren. Vier Söhne hat das Paar zuvor bereits verloren. Die Mutter bleibt lange Zeit traumatisiert verstummt, nachdem ein Granatsplitter in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges einen Sohn in ihren Armen getötet hat.

Schreibschule statt Sonderschule

Mitfühlend und nachahmend schweigt auch der spätgeborene Hanns-Josef. Da die Volksschule an diesem stark introvertierten, mutistischen Kind vollkommen versagt und ihm die Sonderschule droht, erfindet der Vater in der Not eine selbstentwickelte »Schreibschule«, eine einfache Werkstatt, die er – ganz ohne pädagogisches Konzept – aus den Mitteln speist, die ihm als Landvermesser bekannt sind: Stifte unterschiedlicher Dicke, Papiere unterschiedlicher Qualität, Nachschlagewerke wie den Duden. Erst später tritt die Mutter hinzu, die neben dem regelmäßigen Klavierüben auch Etüden und Variationen im Schreiben einführt.

So verwandelt sich der ehemals stumme, retardierte Junge, der vermeintliche Trottel und »elendige Schisser«, in ein waches, neugieriges, aufmerksames Kind, in »das Kind, das schreibt«. Da es sich mit der wachsenden Sprachbeherrschung nach und nach eine erweiterte Weltkenntnis erwirbt, wird es geradezu »schreibsüchtig«; ist unleidig und missgelaunt, unkonzentriert und irritiert, wenn der Tagesablauf einmal keine Zeit für schriftliche Notizen und Übungen lässt. Das Schreiben wird zur (über)lebensnotwendigen Passion.

Jagdhütte und Abstellkammer

Wie diese prägende Initiation Ortheils ganzes Leben geformt hat und bis zum heutigen Tag begleitet, berichtet er in Der Stift und das Papier mit derselben Ruhe und Achtsamkeit, die ihm in jungen Jahren widerfahren ist. Bildlich und atmosphärisch präsent werden die Werkstätten seiner frühen Schreibschule heraufbeschworen: die ländliche in der westerwäldischen Jagdhütte des Vaters und die städtische in der umgestalteten Abstellkammer der Kölner Familienwohnung (in der es offenbar kein Kinderzimmer gab).

Viele der früheren Randbedingungen und Rituale beflügeln den heutigen Schriftsteller noch immer: eine breite Tischplatte, leere Regalbretter, leise Hintergrundmusik, beste Schreibwerkzeuge, intensive Ruhe, äußerste Konzentration. Ohne die frühe puristische Schule der Aufmerksamkeit, ohne die Pflege und Achtung eines besonderen Talentes hätte sich Ortheil wohl kaum zum späteren Autoren und Dozenten entwickelt. Seit 1999 ist er an der Uni Hildesheim tätig, wo er Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus unterrichtet, seit kurzem lehrt er auch in seiner Geburtsstadt Köln an der Kunsthochschule für Medien.

Werkstattbericht und Naturgeschichte des Schreibens

Für seine Arbeit dient Ortheil das ursprünglich vom Vater initiierte Archiv von beschriebenen Blättern – die Chroniken, Miniaturen und Umschreibungen – auch heute noch als unversiegende Quelle der Inspiration und Erinnerung. Die langsame, bedächtige Entwicklung wird in Der Stift und das Papier mit überzeugender Bescheidenheit und unprätentiöser Geradlinigkeit beschrieben. Was im Untertitel als Roman einer Passion firmiert, ist in Wirklichkeit sehr viel mehr: eine Schule der Achtsamkeit und aufschlussreiche Naturgeschichte des Schreibens, dazu gleichermaßen Werkstattbericht wie Autobiographie und Rückblick.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Hanns-Josef Ortheil: Der Stift und das Papier
Roman einer Passion
München: Luchterhand 2015
383 Seiten. 21,99 Euro

Reinhören
NDR Kulturjournal: Über das Buch

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Erzählerisches Chaos

Nächster Artikel

Fly me to the moon

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Der richtige Mann

Roman | Yasmin Angoe: Echo der Gewalt

Nena Knight arbeitet als Vollstreckerin. Ihr Auftraggeber: eine geheime afrikanische Organisation namens »The Tribe«. Von deren Vertretern bekommt die in Ghana Geborene jene Ziele genannt, die sie ausschalten soll. Und Nena, die sich als Elite-Killerin Echo nennt, ist absolut zuverlässig und hundertprozentig tödlich. Bis sie statt eines Bundesanwaltes, den sie in Miami ausschalten soll, den Mann tötet, den ihr Attentat eigentlich vor der Verurteilung durch diesen Anwalt retten sollte. Denn sie kennt den sich jetzt Smith nennenden Delinquenten aus ihrer Vergangenheit. Und da haben er und der Geschäftsmann, der vom Rat des »Tribe« die Eliminierung jenes Anwalts als Vertrauensbeweis verlangt hat, ehe er ein lukratives Handelsabkommen an die Organisation vermittelt, eine fatale Rolle gespielt. Von DIETMAR JACOBSEN

Liebesbriefe im Nähkasten und die verhängnisvollen Folgen

Roman | Theodor Fontane: Effi Briest Oft verfilmt, unterschiedlich und grandios besetzt, ob mit Hanna Schygulla oder Julia Jentsch oder der unvergessenen Ruth Leuwerik: Fontanes Effi Briest, hier nun in einer wunderschönen Buchausgabe, ein großes Literarisches Kunstwerk, verpackt in einem bibliophilen Kunstwerk. BARBARA WEGMANN ist begeistert.

Eine Liebe am Wattenmeer im Zeichen des Klimawandels

Roman | Kristin Höller: Leute von früher

»Als sie Strand zum ersten Mal betrat, zwickte ihr Unterleib, und sie spürte, dass sie zu bluten begann. Sie hatte keine starken Schmerzen, bemerkte kaum Stimmungsschwankungen, ab und zu vergaß sie sogar, dass sie einen Zyklus hatte. Ihr Körper funktionierte und war unauffällig, aber so hatte sie nie gelernt, in sich hineinzuhorchen.« In ihrem zweiten Roman schickt die Autorin ihre Protagonistin Marlene als Saisonkraft in das Erlebnisdorf »Strand« auf eine der Restinseln der längst untergegangenen gleichnamigen Nordseeinsel, die mitsamt dem dort gelegenen berühmten Handelsort Rungholt einst vom Meer überflutet wurde, bei der verheerenden Sturmflut im Jahre 1362. Von Rungholt erzählt auch Barbara, eine ältere Arbeitskollegin Marlenes, und das Magische und Gruselige durchzieht den ganze Roman Höllers. Von DIETER KALTWASSER

Lockdown im Slough House

Roman | Mick Herron: London Rules

Zum fünften Mal müssen sie Kopf und Kragen riskieren: Jackson Lamb und die unter seiner Führung stehenden aussortierten Agenten des MI5. Denn nachdem die halbe Einwohnerschaft eines idyllischen Dorfes in Derbyshire von einer fünfköpfigen Söldnertruppe ausradiert wurde und mitten in London ein Pinguingehege in die Luft geflogen ist, versuchen sich dunkle Kräfte auch noch an einem Anschlag auf Lambs Computerspezialisten Roderick Ho. Spätestens jetzt wachen das »dösende Nilpferd« Lamb und seine »lahmen Gäule« auf und beginnen, Antworten auf Fragen zu suchen, die ihnen niemand gestellt hat. Doch Unruhe bei den Kaltgestellten wird auch in der Geheimdienstzentrale am Regent's Park registriert. Und damit Lamb und die Seinen nicht noch mehr durcheinanderbringen, verhängt man über das »Slough House« kurzerhand einen Lockdown. Von DIETMAR JACOBSEN

Klavier spielen auf dem Cello

Roman | Natascha Wodin: Nastjas Tränen

»Die Treppe herauf kam eine sehr schmale, schüchtern wirkende Frau, die etwa fünfzig Jahre alt sein mochte, aber aussah wie ein Mädchen. Sie trug Jeans und einen Rucksack auf den Schultern.« So beschreibt die inzwischen 76-jährige Schriftstellerin Natascha Wodin die Protagonistin ihres neuen Romans Nastjas Tränen. Wodin, deren literarisches Werk durchgehend einen autobiografischen Background hat, war vor vier Jahren für ihren Roman Sie kam aus Mariupol mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden. Darin hatte sich die Schriftstellerin, die als Tochter russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter 1945 in einem Lager in Franken geboren wurde, in leisen Tönen dem Leben ihrer Mutter angenähert. Von PETER MOHR