Ganz schön nervig

Kinderbuch | Nadia Budde: Vor meiner Tür auf einer Matte

Vielleicht kennt jemand das »bucklig Männlein«, das immer und überall zur Unzeit auftaucht und nervt. Und jetzt stelle man sich vor, dass dieser Störenfried eine Ratte ist. Will man das? ANDREA WANNER ist sich zunächst mal sicher, dass nicht.

RatteNadia Budde ist immer für wundervoll gereimten Blödsinn gut. Das stellt sie einmal mehr unter Beweis, wenn eigentlich jeder gleich mitdichten kann: ›Vor meiner Tür auf einer Matte‹ heißt ihr neuestes Bilderbuch und verrät den passenden Reim gleich auf dem Cover. »Steht plötzlich eine Riesenratte?« Groß ist sie ja, sogar größer als der kleine Mann neben ihr. Aber es stimmt nicht ganz. »Sitzt eine eklig fette Ratte?« Nein, sie sitzt ja nicht, sie steht. Und so wirklich eklig sieht sie gar nicht aus. Okay, sie hat diesen unendlich langen, nackten Rattenschwanz. Aber irgendwie wirkt sie nicht mal so schrecklich unsympathisch. »Steht jeden Tag die blonde Ratte«, lautet Buddes zweiter Vers. Tatsächlich, die Ratte hat blondes Haar auf dem Kopf. Und der Ich-Erzähler, der mit dem Schlüsselbund in der Hand nach Hause kommt, wirkt sichtlich genervt sie dort vor seiner Haustür zu sehen.

»Selten lade ich sie ein« – das kann man verstehen, wer will schon eine Ratte zu Gast haben. Aber die ignoriert das einfach: »Meistens quetscht sie sich mit rein.« Und drinnen treibt sie es nun wirklich toll. Sie zieht sich die Hausschuhe an, die ihr nicht gehören. Sie setzt sich auf einen Sessel, der nun wirklich nicht ihr Platz ist. Sie plündert den Kühlschrank. Egal, was der Wohnungsbesitzer unternimmt: Die Ratte ist entweder schneller: »Suche ich das Telefon, diskutiert die Ratte schon«, oder wenigstens mit von der Partie:«Schalte ich das Radio an, pfeift sie so los so laut sie kann.« So geht das, beim Klavierspielen. In der Badewanne, vor dem Spiegel. Sogar vor der Waschmaschine macht sie nicht halt und zum Picknick lädt sie nicht zur sich selbst ein, sondern bringt gleich ihre ganze Sippe mit.

Szene um Szene zeigt Budde eine sich breit machende Ratte, die keinerlei Distanz hält, und einen zunehmend genervten Mann, dem das alles entschieden zu weit geht. Und als sie sich dann abends einen Teil von seinem Schlafanzug grapscht, platzt ihm der Kragen. Jedes Bild ist ein in sich stimmiges kleines Kunstwerk. Die naiv wirkende Ratte mit den großen Kulleraugen nimmt das Zentrum des Bildes ein, der kleine Mann, der jeweils zornig, ärgerlich oder genervt wird, wird an den Rand gedrängt. Budde arbeitet mit einfachen Mitteln, wenn sie die Mimik der beiden Akteure einfängt. Die Farben bleiben in einem Spektrum gedeckter Töne: blassgelb, senfgelb, braun, olivgrün, altrosa, ein bisschen blau. Den witzigen Reimen steht ein Gefühl der Beklemmung gegenüber, das sich beim Betrachten der frechen Inbesitznahme durch einen Fremden einstellt. Kann man da denn gar nichts machen? Wie wehrt man sich gegen solche unverfrorene Dreistigkeit. Die kleinen Schuhe an den viel zu großen Rattenfüßen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Aufzählung der zahlreichen Übergriffe.

Und dann ist die Ratte weg. Steht einfach an einem Nachmittag nicht mehr vor der Tür. Das wäre doch jetzt ein Grund zum Jubeln, oder? Aber nein, zunächst ist der Mann irritiert, dann unglücklich – und schließlich macht er sich auf den Weg, um sie zu suchen.

Versteht man das? Gute Frage. Wer den Blick sieht, als er sie nach seiner ergebnislosen Suche wieder auf der Matte stehen sieht, versteht vermutlich schon. »Später kehre ich zurück«, berichtet er, zunächst fürchterlich niedergeschlagen, mit hängenden Schultern. Und dann? »Da steht sie wieder … !« Vor der Tür, auf der Matte. Und diesmal darf sie nicht nur mit rein, sie bekommt sogar eigene Hausschuhe. Und was sich auf »zurück« reimt, findet wohl auch jeder selbst raus. Es beschreibt eine neue Qualität der Situation zu zweit. Nicht mehr ein Eindringling und einer, der den Eindringling wieder los werden will, sitzen da gemütlich am gedeckten Tisch zusammen. Die Kanne, die die Ratte zerdeppert hatte, ist geklebt. Beide haben passende Hausschuhe an den Füßen. Und das Wort, das die neue Gemeinsamkeit beschreibt, lautet »Glück«.

Budde wäre nicht Budde, wenn sie es dabei beließe. Dem ersten Schlussgag folgt ein zweiter. Und wenn man den gerade mal verdaut hat, hält sie hinten auf dem Vorsatzpapier noch einen parat. Es lohnt sich, genau hinzuschauen, kein Detail zu verpassen. Das kann man als klassische Nicht-mit-dir-und-nicht-ohne-dich-Beziehung interpretieren oder als unglaublich witzigen Bilderbuchnonsens. Je nach Alter, Lust und Laune. Budde ist schlicht genial.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Nadia Budde: Vor meiner Tür auf einer Matte
Wuppertal: Peter Hammer Verlag 2016
32 Seiten. 15,90 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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