Kinderbuch | Sybil Gräfin Schönfeldt (Hrsg.in): Der Rabe auf dem Meilenstein. Balladen und Erzählgedichte
Prosa hat seit Langem schon ein Übergewicht, wenn es ums Erzählen geht. Beiseite gedrängt wurde dabei auch, was in Reim, Vers, Strophe daherkommt. Ein Plätzchen findet das gerade noch als unterhaltende Verschen oder Kinderlied. Dabei können andere Formen ebenfalls Geschichten erzählen. Dies wiederzuentdecken macht eine neu erschienene Zusammenstellung von Balladen möglich und sie zeigt schon beim Blättern, worum es geht, um Erzähllust. Von MAGALI HEISSLER
›Hausbuch‹ nennt man sie, oft größerformatig, buchbinderisch und künstlerisch mit besonderer Sorgfalt und Liebe ausgestattete Sammlungen bestimmter Texte. Gedacht sind sie als eine Art kultureller Schatz vornehmlich in Familienhand, ihr Inhalt richtet sich an Interessierte jeden Alters. Seit einigen Jahren bringt der Münchner Tulipan Verlag recht regelmäßig solche Hausbücher heraus, die Zielgruppe bisher war allerdings eher eine im Kinderalter. Kinder werden auch in der aktuellen Sammlung von Balladen und Erzählgedichten angesprochen, aber keineswegs ausschließlich. Der Inhalt des neuen Hausbuchs lädt alle ein, zum Neuentdecken, zum Wiederentdecken, zum Lesen und zum Zuhören. Balladen nämlich, das ist so ihre Eigenart, werden erst richtig lebendig, wenn sie, wenigstens halblaut, hörbar gemacht werden.
Balladen erzählen Geschichten, aber deren Wirkung beruht nicht nur auf der geschilderten Handlung, sondern auch auf dem Klang von Silben und Wörtern. Auf Rhythmus, Metrum, zuweilen Reimen. Die Herausgeberin hat aus den vielen Hundert Balladen des deutschen Sprachraums zwischen dem 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts über neunzig herausgesucht, eine Arbeit, die zweifellos ebenso wunderbar wie frustrierend war. Kommt doch auf jeden Text, für den man sich schließlich entscheidet, eine Flut von ausgeschiedenen, von denen man nicht wenigen nachtrauert. Allein die Mühen, eine Auswahl getroffen zu haben, sind schon zu loben.
Alizarinblau, Komkarlinchen und ein keckes Zeitungsblatt
Die Herausgeberin hat den Bogen weit gespannt, zeitlich, inhaltlich, formal. Eingeleitet wird die Sammlung von E. M. Arndts ›Ballade‹, ein bewusst schlicht gehaltenes kleines Märchen über die Sterne und den Mond, das aber schon Herausforderungen in Metrum und Rhythmus enthält und auf Geheimnisvolles verweist, alles also einschließt, was eine Ballade ausmacht.
Unterteilt sind die Texte nicht, nicht thematisch, chronologisch oder formal. Man ist aufgefordert zu blättern, herumzuschweifen und sich überraschen lassen. Das gelingt auf jeder Seite. Kopischs Heinzelmännchen von Köln, Goethes Erlkönig, Alltagsstreiche verbunden mit Lebensweisheit von Wilhelm Busch oder Franz Fühmann, Brecht, Guggenmoos und Absurdes von Morgenstern wechseln sich ab mit Horror aus der Feder C.F. Meyers, Chamissos oder Fontanes. Humor und sanfte Ironie blitzen dazwischen, in der Jammertirade eines wohnungslos gewordenen Brückengespensts, z.B. oder, eine herrliche Wahl nicht nur für Kinder, Liliencrons Ballade in U-Dur.
Freude am schieren Klang von Wörtern quillt aus den Seiten. Alizarinblau ist da die Tinte, Kunkel, Knasterknoch, Nöck und Spiritisten treten auf. Eine ganze Tierwelt erscheint, Tiger, Pinguine, der letzte Elefant, die Maus Komkarlinchen, eine Eintagsfliege, Murmeltiere und das Mondschaf. Ein Milchtopf oder ein keckes Zeitungsblatt können jedoch ebenso gut Protagonisten einer Geschichte sein.
Worte wie Reime sind so stark, dass das Mit – und Nachsprechen beim Lesen oder Zuhören ganz von selbst einsetzt. Sehr jungen Leserinnen und Lesern erfahren hier unmittelbar Rhythmus, entdecken Musikalität in der Sprache, ältere können das schon ungehemmt genießen. Erklärt werden auch ältere Ausdrücke nicht, die Texte sind auch orthografisch nicht an heutige Zeiten angepasst. Hier herrscht Sprache pur.
Starke Gefühle
Inhaltlich geht es genauso pur zu, es geht um starke Gefühle in diesen Texten, Liebesnot, Hochmut und die Folgen von Einfalt, um Rettung aus höchster Bedrängnis. Und um den Tod. Balladen sind dem Kreatürlichen sehr nah. Sie sind Märchen und Lehrgedicht und selbstverständlich schrecklich moralisch, wenn sie eine Moral haben. Die kommt hier nicht bieder daher, sondern mit einem Blick auf Lebenstüchtigkeit und einem Augenzwinkern, etwa in Fühmanns Version der Geschichte vom Wolf und den sieben Geißlein. Einlullen lassen soll man sich nicht von Balladen. Im Gegenteil fordern sie zum Mitdenken und am Ende zum Mitentscheiden auf, schließlich geht es um Grundsätzliches. Vergebung, etwa, Versöhnung, ein Miteinander. Ob in diesem Zusammenhang von Uhland ausgerechnet Der gute Kamerad hat aufgenommen werden müssen und das Ganze mit einem von Kästners einfältigsten und selbstgefälligsten Reimen beschlossen, ist allerdings fraglich.
Illustriert ist das Buch von Willi Glasauer. Die Farben sind eher gedämpft, die Figuren geben dem Buch Märchenatmosphäre. In ihrer aufrechten Haltung, den klaren Formen und den lebendigen Gesichtern sind sie zugleich sehr alltagsnah. Kein Tier ist niedlich, Charakter zeigt sich selbst im Profil eines Huhns. Perspektiven sind immer wieder ungewöhnlich, Bildausschnitte verblüffen. Nicht jede Ballade ist illustriert, der Text steht im Vordergrund hier, aber was zur Bebilderung ausgewählt wurde, ist unerwartet und trägt in jedem Fall dazu bei, die Überraschung zu steigern.
Dieses Hausbuch ist wirklich ein Schatz geworden.
Titelangaben
Sybil Gräfin Schönfeldt (Hrsg.in): Der Rabe auf dem Meilenstein
Balladen und Erzählgedichte. Ill. Von Willi Glasauer
München: Tulipan 2015
224 Seiten. 26,00 Euro
Kinderbuch ab 5 Jahren