Kleine Prosa ganz groß

Kurzprosa | Marie T. Martin: Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen?

Marie T. Martins Einblicke in eine durchwühlte Handtasche – der neue Band mit Kurzprosa ›Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen?‹ ist im ›Leipziger poetenladen‹ erschienen. Von STEFAN HEUER

marie-martin-frechheitIch gestehe: Nur selten lese ich ein Buch stringent von vorne nach hinten, beginne nur selten mit der ersten Seite und ende mit der letzten. Bei Romanen, okay, aber bei Kurzprosa, Sachbüchern oder Gedichten eigentlich nie. Ich gehöre zur Spezies der neugierigen Blätterer und Befummler, lese vor den eigentlichen Texten zunächst die biografischen Angaben, dann die weiteren Buchempfehlungen am Ende der meisten Bücher, flaniere durch Kapiteleinteilungen und vorhandene Illustrationen, bevor ich mich vor dem eigentlichen Lesen den Widmungen und Danksagungen widme. Erst dann schlage ich die meisten Bücher an einer beliebigen Stelle auf und schaue, ob der dort beheimatete Text mich mitnimmt – ein auf Zufälligkeit und/oder Intuition beruhendes System.

Bei Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen? von Marie T. Martin, einer im März 2015 im Verlag des poetenladens erschienenen Sammlung »Kleiner Prosa« (einem Buch, das dringend noch vorgestellt werden muss, bevor in Kürze die Neuerscheinungen 2016 auf den Markt drängen), war dies nicht anders. Nachdem ich das Drumherum studiert hatte, schlug ich eine beliebige Seite auf. Der erste Text:

Nur schneiden bitte, sagte ich, einfach die Spitzen schneiden, aber der Friseur hatte ein paar neue Farben bekommen, die er unbedingt ausprobieren musste. Er hatte gehört, dass ich neuerdings mit dem Busfahrer ausging, und dachte, eine neue Farbe könne die Abende ganz anders erhellen. Nein, wollte ich widersprechen, das ist nicht nötig. Er war schon dabei, die Farbe mit einem dicken Pinsel aufzutragen. Aber ach! Wegen unvorhersehbarer chemischer Reaktionen wurden die Haare orange. Der Friseur war untröstlich. Er tat, als raufe er sich die Haare, dabei hatte er kaum noch welche, er rief ein paar Götter an und machte eine neue Kanne Kaffee. Er lud mich zu einer großen Familienfeier ein und bot an, den nächsten Haarschnitt umsonst zu machen. Man hat ihn nach einer solchen Fehlleistung schon weinen sehen.

Mit diesem seltsamen Friseur hatte sie mich: Nur Sekunden später war ich wieder Zivildienstleistender, ließ mir aus einer Laune heraus eine Kupferfärbung in die damals noch schulterlangen Haare massieren. Auch meine Haare wurden (zur Freude aller Beteiligten) orange – nur dass es bei mir nicht an unvorhersehbaren chemischen Reaktionen gelegen hatte, sondern daran, dass wir nach dem Auftragen erst für Stunden Karten und anschließend zu nachtschlafender Zeit Rugby auf dem Flur des Wohnheims gespielt und die Farbe in meinen Haaren schlichtweg vergessen hatten …

Aber nicht nur der Friseur, auch das restliche Personal in Marie T. Martins Miniaturen ist »ein wenig anders«: blasse, »wie frisch geschlüpft« wirkende Männer, die mit sich selbst zusammenfaltenden Fallschirmen im Garten landen; Schaufensterfiguren, die sich als lebendige Frauen entpuppen; Onkel Holger, der des Nachts durch die Dachluke klettert, um die Sternbilder zurechtzurücken; eine ältere Frau, die mitsamt ihrem Sitz durch den Boden einer Straßenbahn bricht und weiter bis in glühende Innere der Erde; ein Junge, der einen Ball gegen eine Hauswand wirft und damit analog zum flügelschlagenden Schmetterling Weitreichendes auslöst; ein Beifahrer, der sich während der Fahrt derart ausdehnt, dass das gesamte Auto auseinanderfliegt; ein im Ofen nächtigender Bäckerei-Azubi … ich könnte noch lange weitermachen, beende diese Aufzählung aber mit dem Kontrolleur der Zeiten:

»Der Kontrolleur der Zeiten hat ein weißes Rad. Es gibt acht Zeitabschnitte auf seinem Rad, eine Nadel zeigt drauf: die Zeit der hellgrünen Knospen und die der leichten Hände, die der blühenden Wiesen und des starken Rückens, die der glühenden Farben und die des Abschieds, die der weißen Hügel und die des Übergangs. Manchmal lässt er die Nadel zu lange auf einem Abschnitt stehen, dann möchte man sich ständig verabschieden und weiß nicht, warum.«

Mehr als seltsame Personen also, allesamt, ergänzt um Gegenstände mit magisch anmutenden Fähigkeiten und metamorphosierende Lebensmittel.

Ohne Marie T. Martin (die ich bislang hauptsächlich als Lyrikerin wahrgenommen hatte, da ich bereits an vielerlei Stelle Gedichte von ihr gelesen habe und unser bislang einziges reales Treffen beim Lyrikpreis in Meran stattgefunden hat) wirklich näher zu kennen, wage ich zu behaupten, dass es sich bei Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen? um ein sehr persönliches Buch handelt, auch wenn Vieles durch Fragmentierung entzeitigt und verfremdet und dem Surrealismus anheim gegeben wurde.

Bereits das mit »Kennen wir uns?« überschriebene erste Kapitel dient als autobiografische Standortbestimmung – ob als Schleckermaul in der Bäckerei, als Kleinkind auf dem Arm der Mutter oder als in der titelgebenden Handtasche wühlende Frau, die den Verlust des Personalausweises als Chance begreift, frei von Formalien sie selbst zu sein: An vielen Stellen schimmert über kurz (nicht lang!) das Wesen der persönlichen Erinnerung durch die Zeilen. Später, bei familiären Passagen, in denen eine Mutter und vor allem die Großmutter auftaucht, wird dies noch deutlicher.

Ausstattung und Aufmachung sind – wie immer beim poetenladen – erstklassig und über jeden Zweifel erhaben. Ulrike Steinke liefert Bilder, welche die Texte in ihrer Nähe spiegeln und begleiten; kinderbuchartig, nicht trotz, sondern durch ihre farbige Flächigkeit wunderbar. Mein Lieblingsbild: ein Mann mit langen grauen Haaren, der einem auf einem gemütlich aussehenden Sofa liegenden Goldfisch (den ich vor dem Lesen der dazugehörigen Geschichte für eine orange Robbe gehalten hatte …) aus der Bibel vorliest. Große Klasse! Premium!

Ein tolles Buch, großartige Texte, die lange nachwirken. ›Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen?‹ überzeugt mit einer gut ausbalancierten Melange aus frischen Bildern, vor dem inneren Auge aufkeimender Schalkhaftigkeit, glaubhafter Ernsthaftigkeit und Melancholie.

| STEFAN HEUER

Titelangaben:
Marie T. Martin: Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen?
Leipzig: poetenladen 2015
80 Seiten. 18,80 Euro

Reinschauen
Mehr von Marie T. Martin im TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Möge der Beste gewinnen…

Nächster Artikel

SAO: Kein Liebeslied

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Zum Ende

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zum Ende

Der Walfang wäre ertragreich.

Wir werden uns einige Tage gedulden müssen, Ausguck.

Ich weiß. Die Pause hat positive Seiten, oder?

Wenn du mich fragst – der Grauwal imponiert mir. Was für eine gewaltige Fluke! Alle Achtung!

Damit schlägt er jede Schaluppe kurz und klein.

Er weiß das nur nicht.

Wir werden es ihm nicht verraten, Thimbleman.

Der Ausguck lachte, stand auf und sah hinaus auf die Lagune.

Reise ins Innere

Kurzprosa | Thomas Hürlimann: Abendspaziergang mit dem Kater

Die Literatur war für Thomas Hürlimann immer auch ein Spiegel, durch den er auf seine eigene Vita und die bewegte Familiengeschichte schaute. Sein 1994 gestorbener Vater Hans war als Bundespräsident und Innenminister ein profilierter Schweizer Spitzenpolitiker. Um frei schreiben zu können, hatte Hürlimann, der im Dezember seinen 70. Geburtstag gefeiert hat, sogar zwischenzeitlich die Schweiz verlassen und war nach Berlin übergesiedelt. PETER MOHR nimmt uns auf Hürlimanns Abendspaziergang mit dem Kater mit.

Auflösung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auflösung

Er sehe sich Irrwegen ausgesetzt, sagte Farb, Sackgassen, täuschenden Abzweigungen, wohin das führe, es würden falsche Fragen gestellt.

Zufall, nein, sagte er, das sei kein Zufall und ebenso wenig ein Anzeichen von Demenz, es würden falsche Fährten gelegt.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite.

Tilman schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Absicht, sagte er, das geschehe mit voller Absicht, die Öffentlichkeit werde auf Glatteis geführt.

Wenn dem Esel zu wohl werde, sagte Tilman, gehe er aufs Eis tanzen.

Annika lächelte. Man wisse sich nicht anders zu helfen, sagte sie.

Karttinger 5

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 5

Der Moderator sah einige Jahre jünger aus als der Geheimrat, seine Größe, die sportliche Figur und der Haarschopf verliehen ihm einen überwältigenden Anschein von Jugend, und was er trug, war phantasievoll arrangiert, sie schienen beide etwas aus der Zeit gefallen.

An leichten Hängen wandte er sich nach seinem Geheimen Rat um, gut gelaunt, aber lachte ihn an mit drohend gebleckten Zähnen.

Verehrter Herr Geheimrat!, rief er ihm aufmunternd zu, nutzen Sie die Gangschaltung, damit Sie nicht Ihre Kräfte vergeuden!, und führte sie ihm vor, als dieser heran war.

Der Geheimrat atmete angestrengt; antwortete, wenn ihm danach war; der Moderator könne ihm gleichgültig werden, was hatte er vor.

Der alte Herr werde wohl, dachte sich der, keine weitere Stunde unterwegs sein wollen.

Landschaft II

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Landschaft II

Er sei neugierig geworden, sagte Farb, und habe selbst etwas über chinesische Landschaftsmalerei gelesen.

Annika lächelte. Lesen macht schlau, sagte sie und schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Tilman blickte auf.

Sie habe sich unter der Tang-Zeit im siebten bis neunten Jahrhundert herausgebildet, sie habe ihre Blüte unter den Song und Yuan (10. Jh. bis 15. Jh.) erlebt, ihr Schwerpunkt habe sich seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auf das Genre der Blumen und Vögel verlagert, und im neunzehnten Jahrhundert sei die große Landschaftsmalerei nach und nach erloschen.

Eine außergewöhnlich lange Zeit, sagte Annika.

Ihr Ende, so werde erklärt, sagte Farb, bilde den Verlust der Einheit von Natur und Kultur ab und, wenn man so wolle, ein Verschwinden der Welt überhaupt, es herrschen ungewöhnliche Zeiten.

Große Worte. sagte Annika.