Nicht lesen, sondern dechiffrieren

Roman | Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg

Reinhard Jirgl, Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2010 und damals wegen seines avantgardistischen Schreibgestus‘ gerühmt, hat einen gewaltigen Erzählbrocken vorgelegt. Ein Buch, das nicht gelesen, sondern dechiffriert werden muss. Oben das Feuer, unten der Berg – gelesen von PETER MOHR

Jirgl_25052_MR.inddWie schon in den Vorgängerwerken Die atlantische Mauer (2000), Die Unvollendeten (2003), Die Stille (2009) und Nichts von euch auf Erden (2013) stehen wieder Figuren mit gebrochenen Biografien im Mittelpunkt – allen voran die Geschwister Theresa und Willfried Berger aus der ehemaligen DDR.

Der 63-jährige Reinhard Jirgl erweist sich wieder einmal als der größte und wortgewaltigste Schwarzmaler unserer Zeit, aber als auch der radikalste Sprachexperimentierer – als legitimer Nachfahre Arno Schmidts.

Die Omnipräsenz des Dunklen, des Geheimnisvollen und des schleichenden Verfalls sind Grundbausteine in Jirgls Werken und erinnern auch ein wenig an die bleierne Düsternis bei Wolfgang Hilbig. Und wer bei Arno Schmidt und Wolfgang Hilbig – die Nachkriegs-Giganten der schwerverdaulichen deutschsprachigen Literatur – aufmerksam gelauscht hat, dem fließt keine Mainstream-Prosa aus der Feder.

Querdenker Jirgl hat in seinem neuen Roman den Untergang der DDR mit brutalen Kriminalgeschichten untermalt, die sich um das bereits erwähnte Geschwisterpaar Berger ranken.

Einem aus Hannover nach Berlin delegierten Kriminalbeamten wird in der unmittelbaren Wendezeit, die bei Jirgl »Großer=Bürokratischer=Umbau« heißt, eine Vermisste gemeldet. Es ist Theresa Bergers Adoptivvater, der bei der Polizei vorstellig wird und später vom »Gespenst der unerlösten Vergangenheit, die Immer=Gegenwart ist« spricht.

Irgendwann hat er Theresa die wahre Familiengeschichte erzählt, ihr mitgeteilt, dass ihre leiblichen Eltern als Staatsfeinde der DDR »wegen Spionage Staatsfeindlicherhetze & Verunglimpfungführenderpersönlichkeiten« viele Jahre in Bautzen einsaßen und dann verstorben sind. Und dann ist da noch ihr jüngerer Bruder Willfried, der schon als Kind verhaltensauffällig war, zur Aggression neigte und von Heim zu Heim geschickt wurde.

Nächtelang verharrt Theresa, die gescheiterte Historikerin, bei Eiseskälte am Grab ihrer leiblichen Eltern, deren Todesumstände nicht wirklich geklärt sind. Beruflich hat sie sich verheddert in den Fallstricken zwischen Wissenschaft und staatskonformer Gesinnnung, ist »1 Deg-Radierte mit ausgelöschtem Forschungsgebiet.«

Dieser Roman beinhaltet viele erschütternde Handlungsstränge, doch Jirgls formaler Nonkonformismus verhindert eine flüssige Lektüre. Regeln der Grammatik, Orthographie und Interpunktion werden gebrochen. Ausrufezeichen dienen der wahrhaftigen Akzentuierung einzelner Silben in auseinandergerissenen Wörtern. Das ist fraglos äußerst reizvoll für Germanisten, aber für den Normal-Leser entwickeln sich Jirgls eigenwillige und nicht immer gelungene Sprachkompositionen »Re-woll-Lutschon« klingt schon ziemlich albern) zu einer kräftezehrenden Tortur.

Theresa taumelt ebenso als tragische Figur durch die Handlung wie ihr jüngerer Bruder Willfried, der eine »Aus-Bildung=zum-Berufsmörder« durchlief und von den DDR-Machthabern instrumentalisiert worden ist, um unliebsame Oppositionelle aus dem Weg zu räumen.

Das ist sowohl inhaltlich als auch formal ganz schwere Kost. Man muss diese Bücher nicht lieben, man kann sogar etliche Vorbehalte artikulieren, aber der schreibende Steinmetz Jirgl, der seine Stoffe urwüchsig mit Hammer und Meißel behandelt, entwickelt sich immer mehr zum Meister der zeitgenössischen Dystopie.

| PETER MOHR

Titelangaben
Reinhard Jirgl: Oben das Feuer, unten der Berg
München: Hanser Verlag 2016
284 Seiten. 22,90 Euro
Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr von Reinhard Jirgl in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Bologna im Frühling

Nächster Artikel

Nicht alles hat einen Grund

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Die schwere Bürde eines guten Lebens

Roman | Daniela Krien: Der Brand

Der Brand bringt die zuvor schon dahinschwelenden Eheprobleme eines ostdeutschen Paars erneut zum Auflodern, wobei sich die ländliche Abgeschiedenheit eines Sommerdomizils als Katalysator erweist. Daniela Krien entwirft in ihrem neuen Roman das Psychogramm einer in die Jahre gekommenen, vielfach versehrten Beziehung und das Ausloten unterschiedlicher Lebensentwürfe. Von INGEBORG JAISER

Träne im Augenwinkel

Roman | Hans-Ulrich Treichel: Schöner denn je

»Ich habe nie jemandem davon erzählt. Von meinem Auserwähltsein, wenn ich es einmal so nennen darf.« Mit diesem Romaneinstieg führt Autor Hans-Ulrich Treichel, der von 1995 bis 2018 als Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig tätig war, die Leser mit voller Absicht aufs Glatteis. Von der ersten bis zur letzten Seite begleiten wir den stets von starken Selbstzweifeln geplagten Ich-Erzähler Andreas Reiss durch die Handlung. Er ist alles andere als ein Auserwählter, eher das Gegenteil. Er arbeitet in der Lehrerfortbildung, ist gerade geschieden und trifft zufällig in einer Berliner Kneipe, die Klaus Kinski »Pissbude« bezeichnet hat, seinen früheren Mitschüler Erik wieder. Von PETER MOHR

Lebenssinn durch Seniorenheim

Roman | Kathrin Weßling: Sonnenhang

»In mir herrscht ganz viel Schwere, ich habe ganz viel Scheiße in meinem Leben erlebt. Aber ich bin gesegnet mit einer humorvollen Leichtigkeit, die mir hilft, da durchzugehen«, bekannte kürzlich die Autorin Kathrin Weßling, die mit ihren gerade einmal 40 Jahren schon eine Menge auf dem Buckel hat. Gelesen von PETER MOHR

Die Hauptstadt der Zwietracht

Roman | Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes »Was tut die Hand des Papstes, wenn sie nichts tut?« – Diese Beobachtungsaufgabe stellt sich dem Protagonisten, nachdem er den heiligen Vater am Karnevalssonntag 2011 ohne »autoritätsverheißende Tracht« in einer protestantischen Kirche antrifft. PETER MOHR rezensiert den neuesten Band des Büchnerpreisträgers F.C. Delius – Die linke Hand des Papstes.

Weil ich der Teufel bin

Roman | Marieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Prachttier

Dieser Roman ist ausgesprochen mutig, er ist beklemmend und im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Er schickt den Leser auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle und lässt ihn am Ende tief erschüttert zurück. Von PETER MOHR