Auf dem Weg ins Glück

Roman | Jan Brandts: Tod in Turin

»Das viele Geld hat mich satt und träge werden lassen«, heißt es in Jan Brandts stark autobiografisch gefärbtem Band ›Tod in Turin‹. Vor vier Jahren hatte der heute 41-jährige, aus dem ostfriesischen Leer stammende Autor mit seinem gigantischen 900-Seiten-Debütroman ›Gegen die Welt‹ direkt den Sprung in die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Es war ein gewaltiger Roman, der den Nerv des Zeitgeistes zu Beginn der 2010er Jahre außergewöhnlich präzise traf, ein Epos mit depressiver Grundstimmung im XXL-Format. Von PETER MOHR

TurinDer neue Band handelt von den Auswüchsen des Literaturbetriebs, von Brandts Besuch der Turiner Buchmesse anlässlich des Erscheinens der Übersetzung seines gefeierten Erstlings. Autobiografische Fakten bilden den Leitfaden für dieses erzählerische Journal. Das Erzähl-Ich berichtet über permanenten Terminstress, von sechzig absolvierten Lesungen in acht Monaten und dem damit verbundenen, sich permanent wiederholenden Abarbeiten von Fragenkatalogen nach den Veranstaltungen. Gespielte Freundlichkeit und Gesprächsbereitschaft als Akt höchster Selbstdisziplinierung und Selbstverleugnung steckt dahinter, wenn man auf die immer gleichen Fragen (»Wie stark autobiografisch ist das Buch?«, »woran schreiben Sie jetzt?«, »was wollen Sie uns damit sagen?«) der Zuhörer oder Interesse heuchelnder Journalisten, die oftmals das Buch nicht einmal gelesen haben, bereitwillig und langmütig antwortet.

Jan Brandt übt hier sanfte Kritik am Literaturbetrieb, spricht von einer »Zeit des permanenten Ausnahmezustandes« und beschreibt das Treiben der Szene wie einen Jahrmarkt der Eitelkeiten. »Alle deutschsprachigen Schriftsteller von Weltrang haben über ihre italienische Reise geschrieben«, heißt es bei Brandt in einer diffusen Mischung aus Selbstironie und Koketterie. Er reiht sich damit selbst in eine »Liga« ein mit Goethe, Thomas Mann, Heinrich Heine und vielen anderen renommierten Dichtern, von denen er Zitate in seinem Journal eingearbeitet hat. Wir begegnen dem Ich-Erzähler auf der Turiner Messe, beim belanglosen Stehtisch-Smalltalk, bei Interviews und Empfängen. Es sind eingeübte Rituale eines Zirkels, der seine eigene Wichtigkeit in den Vordergrund rückt und nach Kräften selbst pflegt.

Wenn es um in der Stadt Turin gewonnene Eindrücke geht, weicht der zuvor leicht-lockere Erzählton einem akribischen Beschreibungsduktus. Ein deutlicher Bruch zeichnet sich ab, Distanz und Kühle hält Einzug in Brandts Aufzeichnungen. Er pflegt einen äußerst kritischen Umgang mit Italiens Kulturszene, die (nach seiner Einschätzung) seit Berlusconi durch Korruption und Misswirtschaft geprägt sein soll.

›Tod in Turin‹ ist ein hybrides Werk, das seltsam unentschieden zwischen Autobiografie, Reiseskizze, Satire und kulturkritischem Essay daher kommt. Am Ende sitzt der Erzähler im Flugzeug, beißt in einen Apfel und bekennt: »Ich bin hier. Ich bin weg. Ich bin frei. Ich bin ich, auf dem Weg ins Glück.« Man wünscht es ihm, hätte als Leser aber auch gern gewusst, wo und wie er es gefunden hat.

| PETER MOHR

Titelangaben
Jan Brandt: Tod in Turin
Köln: Dumont Verlag 2015
304 Seiten. 19,99 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die unendliche Bedeutungslosigkeit des Seins

Nächster Artikel

Komik und Trauer vereint

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Summer of 69

Roman | Ulrich Woelk: Der Sommer meiner Mutter In seinem neuesten Roman zeichnet der Autor Ulrich Woelk ein berührendes und rückwirkend leicht melancholisch anmutendes Zeitpanorama der 1960er Jahre. Der Sommer meiner Mutter enthüllt eine Stimmung zwischen Bigotterie und dem aufkeimenden Wunsch nach Selbstverwirklichung, zwischen technischem Fortschrittsglauben und menschlichem Unvermögen. Eine Besprechung von INGEBORG JAISER

Die geheimnisvolle 36

Roman | Judith Kuckart: Kein Sturm, nur Wetter »Ich kenne die Sehnsucht nach dem kleinen Leben, aber auch nach den großen Dingen. Bei wichtigen Gefühlen, auch beim Heimatgefühl, verspürt man solche Zerrissenheit immer«, hatte die gerade 60 Jahre alt gewordene Autorin Judith Kuckart vor sechs Jahren in einem Interview erklärt und damit beinahe schon die innere Zerrissenheit ihrer namenlosen Protagonistin aus dem neuen Roman Kein Sturm, nur Wetter vorweg genommen. Von PETER MOHR

Erst einen auf dicken Max machen

Roman | Frédéric Beigbeder: Der Mann, der vor Lachen weinte

Octave Parango ist ein Mann, der in der Mitte des Lebens steht – Midlifekrise, Potenzstörung, Fragen nach dem Sinn. Letztere lösen eine existenzielle Krise für den Helden aus. Und gerade deswegen spielt er noch einmal eine ganze lange letzte Nacht hindurch auf der Klaviatur des Lebens. Warum aber schlussendlich selbst Präsident Macron eine Rolle in dieser Pariser »Féte« übernehmen muss, wird nicht verraten. Frédéric Beigbeders neuer Roman Der Mann, der vor Lachen weinte mag für unruhige Nächte als Bettlektüre empfohlen sein – nicht ohne »Aufreger-Garantie« – meint HUBERT HOLZMANN.

Jugend, forsch!

Roman | Scott Bergstrom: Cruelty 17 Jahre ist die Heldin von Scott Bergstroms Thrillererstling Cruelty alt. Und ihr wird eine Menge abverlangt. Denn nach dem Verschwinden ihres Vaters macht sich Gwendolyn Bloom auf, ihm selbst und seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Eine halsbrecherische Reise beginnt, die Gwen von New York aus über Paris und Berlin schließlich bis nach Tschechien und in die Nähe eines hochgefährlichen Mannes führt. Von DIETMAR JACOBSEN