Pure Verzweiflung

Jugendbuch | Dianne Touchell: Kleiner Wahn

Rose liebt Michael und Michael liebt Rose. Alles könnte so schön sein. Könnte, denn ihre Beziehung hat Folgen. Von ANDREA WANNER

Dianne Touchell: Kleiner WahnJeden Tag bringen rund 20.000 Mädchen unter 18 Jahren ein Kind zur Welt, das sind rund 7,3 Millionen Teenager-Schwangerschaften pro Jahr. Die Gründe sind neben mangelnder Aufklärung und Verhütungsmöglichkeit, fehlende Bildungschancen und sexuelle Gewalt. Rose und Michael gehören zu denen, die eigentlich über Verhütungsmittel verfügen: Rose hat die Kondome für das »Erste Mal« von ihrer Freundin bekommen, Michael von seinem älteren Bruder. Aber als es soweit ist, »vergessen« sie das Kondom. Beiden fehlt, wie sich zeigen wird, die Reife, die Tragweite ihres Tuns zu erkennen. Auch das zweite Mal findet ohne Verhütungsmittel statt. Sie genießen den Sex, genießen einander. Weiter denken sie nicht. Und dann ist es irgendwann sowieso zu spät. Rose ist schwanger.

Vogel-Strauß-Politik

Statt sich darum zu kümmern, was es für Lösungsmöglichkeiten für sie, die gerade ihr letztes Highschooljahr absolvieren, geben könnte, wählen sie eine andere Strategie, sie verleugnen die Tatsache, dass Rose ein Kind bekommt.

Die Medizin und die Psychotherapie unterscheiden verschiedene pathologische Formen von Schwangerschaftsverarbeitung. Eine davon ist die verleugnete Schwangerschaft. Die Frau ahnt, dass sie ein Kind in sich trägt, verleugnet diesen Zustand aber so lange, bis sie selbst davon überzeugt ist, nicht schwanger zu sein. Während also das Kind in ihr wächst, wächst gleichzeitig die Überzeugung, dass alle Zeichen dieser Schwangerschaft eine andere Ursache haben. Das klingt entsetzlich? Das ist entsetzlich. Wie entsetzlich, schildert Diane Touchell mit schonungsloser Offenheit und an manchen Stellen kaum erträglich in ihrem erschütternden Roman. Rose ist eine junge Frau, die sich mehr und mehr von ihrem Körper distanziert, die sich überhaupt von ihrem Ich trennen muss, denn dieses Ich wird ihr zunehmend unheimlich. So erfindet sie sich neu, erschafft eine Figur, die wenig mit ihr selbst zu tun hat.

Zwei junge Menschen aus ganz unterschiedlichen, aber jeweils sehr problematischen Elternhäusern, suchen aneinander Halt und reißen sich dabei gegenseitig in den Abgrund. Michael stammt aus einem streng religiösen Elternhaus mit einem patriarchalischen Vater, der streng und unerbittlich den Lebensweg seiner beiden Söhne vorgezeichnet hat. Solange alles so funktioniert, wie er es geplant hat, ist er ein vermeintlich verständnisvoller Vater. Abweichungen und Regelverletzungen duldet er an keiner Stelle. Ganz anders die liberale Familie von Rose. Der Vater ist ständig unterwegs, seine »beiden Mädchen« genießen ein Leben ohne ihn. Rose spielt die Rolle der braven, immer fröhlichen, erfolgreichen Tochter, um die Ängste der Mutter damit zu beschwichtigen und wird durch große Freiheit »belohnt«. Beide sind in keiner Weise darauf vorbereitet, Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen. Es muss Wege geben, auch in einer vergleichsweise prüden, australischen Gemeinde. Rose und Michael fehlt die Fantasie für solche Wege. Rose wählt den Weg in die Verdrängung und Michael lässt sie gewähren. Nein mehr noch, er lässt sie im Stich.

Touchell findet dafür Worte, die unter die Haut gehen. Es ist kaum erträglich mitzuerleben, wie Rose leidet, sich selbst kaputt macht und dabei die angebotene Hilfe ihrer Freundin zurückweist. Sie kann sich nicht helfen lassen, denn das wäre ja das Eingeständnis ihrer Schwangerschaft.

Seite um Seite steigert sich der »kleine Wahn« in etwas Entsetzliches, Bedrohliches, das nur in einer Katastrophe enden kann. Knappe Sätze, ungewohnte Bilder, genaue Betrachtung körperlicher Veränderungen und immer wieder Fehl- und Trugschlüsse: Touchell mutet ihren Leserinnen viel zu, lässt keinen Raum für Hoffnung. Systematisch zerstört Rose durch ihr Verhalten nicht nur ihr eigenes Leben. Wer ist schuld? Wer hätte an welcher Stelle dieses fatale Verhalten stoppen können? Die Geschichte von Michael und Rose lässt einen nicht los, auch nicht, nachdem das Buch zugeklappt ist.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Dianne Touchell: Kleiner Wahn
(A Small Madness, 2015). Aus dem Englischen von Birgit Schmitz
Hamburg: Carlsen-Verlag 2015
267 Seiten, 15,99 Euro
Jugendbuch ab 15 Jahren
Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Herzenswunsch mit kleinem Haken

Nächster Artikel

Drei Löcher im Hintern

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Worte oder Wörter?

Jugendbuch | Dirk Pope: Still!

Nichts mehr im rechten Winkel. Wenn sich Eltern trennen, leiden auch die Kinder. Und wie sie das verarbeiten, ist sehr unterschiedlich. Mariella zum Beispiel redet nicht mehr. Und das verursacht Probleme, für sie in der Schule, für ihre Mutter, für die Lehrer. Aber so richtig Verständnis hat dafür fast niemand. Außer Stan, der auch nicht redet. Von GEORG PATZER

Unverhofftes Wunder

Jugendbuch | Karin Kaçi: Irgendwann in Istanbul In Zeiten, in denen hitzig über doppelte Staatsbürgerschaft, Migrationshintergrund und die Frage gestritten wird, wer in Europa wann und für wen die Schlagbäume öffnen oder herunterlassen soll, kommt ein Jugendroman daher, das Cover viel zu rosarot und mit viel zu vielen Herzchen, und führt die ganze Problematik zu denen zurück, die sie angeht. Gelesen von MAGALI HEISSLER.

Erinnern und Vergessen

Jugendbuch | Kristina Magdalena Henn: Ende Juli, Anfang August

Die 15jährige Juli hat vor drei Jahren ihre Zwillingsschwester verloren und kommt nicht darüber hinweg. Und dann findet sie am Meer einen leblosen Jungen, der sein Gedächtnis verloren hat. Von ANDREA WANNER

Jede Menge Erinnerungen

Kinderbuch | Ein wie sie fehlt in dieser Zeit / Das Pippi Langstrumpf Kochbuch

Zwei Bücher, die wir beide Astrid Lindgren zu verdanken haben: das erste ist ein Blick auf ihr Leben von der Journalistin Katrin Hörnlein, das sich an Jugendliche und Erwachsene richtet, das zweite ist ein Kochbuch, an dem Kleine und Große gleichermaßen Spaß haben werden, findet ANDREA WANNER

Eine Geschichte von Liebe

Ylva Karlsson: Prinzen müssen draußen bleiben Einfach lieb haben, die Eltern, Großeltern, die Geschwister, ist so natürlich wie essen, trinken, schlafen. Einem Teenager aber kommt das nicht mehr so natürlich vor. Die Frage, wer wem Liebe zeigt und gibt und auf welche Weise das geschieht, wird schwierig. Bald scheint sie unlösbar, vor allem, wenn die Außenwelt in den vertrauten Familienkosmos eindringt. Ylva Karlsson erzählt davon und es ist keine Liebesgeschichte geworden, sondern wunderbarerweise eine Geschichte von Liebe. Von MAGALI HEISSLER