Roman │ Heinz Helle: Eigentlich müssten wir tanzen
Die Apokalypse, untergebracht im gesellschaftskritischen Surrealismus der Gegenwart: Der 37-Jährige Heinz Helle hat mit seinem zweiten Roman ›Eigentlich müssten wir tanzen‹ ein Werk geliefert, das schockiert mit seiner trockenen Art und Weise, das brilliert mit seiner ausdrucksstarken Kürze und das zum Nachdenken anregt. Zum Nachdenken über die Gesellschaft, über Werte und über eine neue Art der literarischen Endzeitszenarien. Von TOBIAS KISLING
Fünf ehemalige Schulfreunde, die sich auseinandergelebt haben, verbringen in traditioneller Manier ein Wochenende auf einer Hütte in Bayern. Als sie den Heimweg antreten wollen, finden sie die Welt in Schutt und Asche vor. Es brennt, die Gewässer sind verseucht, die wenigen Überlebenden haben sich teilweise zu Banden organisiert und ziehen mordend durch die Gegend. Die Welt, wie sie den fünf jungen Männern, die mittlerweile alle in der Arbeitswelt angekommen sind und einen hohen Lebensstandard aufweisen können, noch vor wenigen Tagen kannten, existiert nicht mehr.
Zurück auf Anfang
Heinz Helle nimmt sich nicht die Zeit, um seinen Figuren Entwicklungspotenzial einzuräumen. Er steckt sie in eine Welt, die dem Naturzustand nach Thomas Hobbes gleicht. Nur dass das Quintett im Gegensatz zu Hobbes Werk nicht auf die Rettung durch den Leviathan, dem souveränen Staat, zu hoffen braucht. Es gibt keinen Staat mehr. Es gibt keine Gesellschaft mehr. In der Anarchie zählen nur Grundbedürfnisse, um das Überleben zu sichern. Die fünf Männer passen sich den Gegebenheiten schnell an und vergewaltigen ohne mit der Wimper zu zucken die erste Überlebende, die sie finden. In einer Welt ohne Rechtsstaat gibt es auch keine moralischen Werte mehr. Totale Freiheit als Auslöser der Urinstinkte. Wie wilde Tiere stöbern sie in verlassenen Supermärkten nach Nahrung. Weitere Überlebende werden kategorisiert in Gefahr und Opfer.
Zwangsgemeinschaft statt Freundeskreis
Mit Freundschaft hat das Verhalten der Gruppe ebenfalls nichts mehr zu tun. Sie sind aufeinander angewiesen, um zu überleben. Wie wenig sie sich bedeuten, wird deutlich, als sich Fürst, einer der Freunde, den Fuß bricht. Es steht außer Frage, dass er zurückgelassen wird. Das weiß er und das weiß jeder andere der Gruppe. Etwaige andere Möglichkeiten werden gar nicht erst diskutiert. Der Ich-Erzähler benennt die Situation klar: »Konzepte wie Charakter oder Persönlichkeit haben in unserer kleinen Gruppe keine Bedeutung mehr« (S. 117). Paradox wird dieser starke Überlebenswille aufgrund der Aussichtslosigkeit der Lage. Zu keinem Zeitpunkt gestattet es Helle seinen Figuren, Hoffnung aufkommen zu lassen.
Das Ende vom Anfang
Stets folgen die Freunde dem Drang, weiterzugehen. Immer, wenn einer zurückbleibt, folgt eine Rückblende zu dem Leben vor der Apokalypse. Helle nutzt ein interessantes Stilmittel: Durch seine emotionslose Beschreibung der dystopischen post-apokalyptischen Welt erscheint die Normalität wie eine Absurdität. Im Vordergrund steht das Motiv des Weitergehens, des Vorwärtskommens, des Fortschritts. Vorbei an einem Kreisel, in dem sich Autos zu einer bizarren Skulptur formten, da sie immer weiter im Kreis fuhren, solange, bis sie sich übereinanderstapelten. Es ist ein sinnloses, ein zielloses im Kreis-Fahren. Ebenso sinn- und ziellos wie das Unterfangen der Freunde, weitergehen, weiterleben zu wollen. Der zynische Höhepunkt: Der Ich-Erzähler kommt am Ende wieder bei einer Hütte im Schnee heraus. Der Anfang vom Ende war zugleich das Ende vom Anfang. Ein unüberwindbarer Kreislauf.
Unterschwellige Gesellschaftskritik
Heinz Helle verzichtet nicht nur auf emotionsgeladenes Schreiben, er weist auch keine Schuld zu. Über 173 Seiten fragt sich seine Leserschaft, was die Apokalypse ausgelöst hat. Über 173 Seiten bleibt Helle eine Antwort schuldig. Das lädt ein zu Interpretationen. Siechte die Gesellschaft schon zu lange vor sich hin? Hat sie das Menschsein mit der technischen Evolution verlernt? »Angenommen die Welt wäre ein Organismus und wir und unsere Waren wären die Moleküle, aus denen er besteht – dann hätte die Welt hohes Fieber« (S. 70). Es sind ausdrucksstarke Sätze, die Helle in seinen Roman einstreut, die aber auch oft versteckt sind in der grauen und eintönigen Welt der Post-Apokalypse.
Kapitalismus und Technik ohne Nutzen
Nie steht es infrage, wie es mit den Figuren ausgehen wird. Hoffnung gibt es in Helles Roman nicht. Zynismus kommt dagegen immer wieder vor. Bestes Beispiel: Dygalski und der Ich-Erzähler wollen mit einem großen Friedenszeichen im Schnee auf sich aufmerksam machen. Stattdessen zeichnen sie einen überdimensionalen Mercedes-Stern. Kapitalismus-Kritik, verpackt im schwarzen Humor. Technische Errungenschaft ist in der Post-Apokalypse wertlos. Sie dient nur noch der Erinnerung. Bestes Beispiel dafür ist das Smartphone: »Wir tragen Modelle unseres Lebens in unseren Taschen, und auch wenn wir in dieses Leben nie mehr zurückkönnen, beruhigt es uns, eine Erinnerung daran zu haben, die wir anfassen können und herausholen und betrachten« (S. 25). Aber was nützen Modelle eines Lebens in einer Welt ohne Gesellschaft?
Apokalypse als Befreiung
Mit seiner nüchternen Art schafft es Helle, seine Leserschaft zu binden. Ein junger Autor, der mit Ausdrucksstärke und Kürze zu brillieren weiß, der nachdenklich stimmt und verwirrt. ›Eigentlich müssten wir tanzen‹ ist hochbrisant, greift in kompakter Form aktuelle politische Diskussionen auf (»Die Menschen müssen wissen, was sie am Frieden haben, an Europa, an der harmlosen Langeweile«, S. 123) und hinterfragt Wertvorstellungen und Verhaltensweisen. Gelegentlich verrennt Helle sich in dem Versuch, auf die Aktualität hinzuweisen, etwa dann, wenn er Liedtexte von Helene Fischer oder Eminem zitiert. Das wäre gar nicht nötig. Denn ›Eigentlich müssten wir tanzen‹ ist eine gelungene Dystopie, die zeitlos funktioniert.
Titelangaben
Heinz Helle: Eigentlich müssten wir tanzen
Suhrkamp Verlag 2015
173 Seiten, 19,95 Euro
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