Spaziergänger zwischen den Welten

Comic | Jiro Taniguchi : Die Wächter des Louvre

Der renommierte japanische Ausnahmekünstler Jiro Taniguchi (›Vertraute Fremde‹, ›Der spazierende Mann‹) wurde im Jahr 2014 im Rahmen einer jährlich stattfindenden Zusammenarbeit des Louvre mit einem Comicverlag dazu ausgewählt, ein Comicalbum über dieses wohl berühmteste aller Museen zu schaffen. Herausgekommen ist ein sehr persönliches Album, in dem Taniguchi den europäischen Einflüssen auf seine Mangas nachspürt – aber leider auch viel ins Dozieren gerät. BORIS KUNZ hat einen langen Spaziergang mit ihm unternommen.

Jiro Taniguchi - Die Wächter des LouvreEin junger japanischer Comiczeichner hat nach einem Besuch auf einem europäischen Comicfestival einen kurzen Aufenthalt in Paris eingeplant, um die Stadt und seine berühmten Museen kennenzulernen. Leider liegt er dann erst einmal mit schwerem Fieber einen Tag lang im Hotelzimmer flach. Am nächsten Morgen macht er sich dann auf den Weg in den Louvre und ist erst einmal erschlagen von dem Andrang der Touristenmassen, die dem Ort jegliche Magie rauben. Doch dann findet er sich plötzlich in völlig leeren Hallen wieder, in der Begleitung einer merkwürdig kostümierten jungen Frau, die sich ihm als Nike von Samothrake vorstellt. Sie gehört zu den zahlreichen »Wächtern des Louvre« – den Kunstwerken entsprungene Geister, die das alte Museum bevölkern und seine Vergangenheit am Leben erhalten. Dank Nikes Hilfe kann der Ich-Erzähler bald schon Ausflüge in die Vergangenheit unternehmen, auf bedeutende Gestalten wie Vincent van Gogh oder Antoine de Saint-Exupéry treffen. Oder sind das alles nur die Fieberphantasien einer nicht ausgeheilten Krankheit?

Der namenlose Protagonist tut die meiste Zeit das, was Comicfiguren wohl nur in den meditativen Comics von Taniguchi so ausführlich tun: Er geht spazieren. Seine Spaziergänge beschränken sich dabei nicht nur auf die Hallen des Louvre, die auf wundersame Weise für ihn so leer und verlassen sind, wie sie kein Normalsterblicher wohl jemals zu Gesicht bekommen wird, sondern führen ihn auch hinaus aufs Land, nach Auvers-sur-Oise, dem letzten Wohnort van Goghs, in dessen Atelier, in die weite, leere Sommerlandschaft, die dessen Bilder inspirierte – und schließlich sogar zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs.

Ein Meister verneigt sich

Die Hauptfigur ist ein junges Allerweltsgesicht, eine Art Tintin als japanischer Tourist, der als Projektionsfläche für den Betrachter dienen kann. Auf der anderen Seite ist er unverkennbar ein Alter Ego von Taniguchi selbst, dem in Angoulême ausgezeichneten, von französischer Malerei beeinflussten und für französische Verlage tätigen Mangaka, der inzwischen jedoch weitaus mehr Lenze zählt als der Protagonist des Albums. Taniguchi nutzt die Auseinandersetzung mit dem Thema Louvre vor allem dazu, seinen persönlichen Vorbildern zu huldigen. Im Prinzip ist der ganze Band eine Verneigung vor ein paar herausragenden Persönlichkeiten: Den Landschaftsmalern Jean-Baptiste Corot, Antonio Fontanesi, Vincent van Gogh (deren Kunst gerade auch in Japan großen Einfluss hatten) sowie Chu Asai und schließlich Jacques Jaujard, Vizedirektor der Nationalmuseen Frankreichs, der in einer aufwendigen Aktion 1939 die Kunstschätze des Louvre vor dem Zugriff der deutschen Besatzer gerettet hat. In diesem Kapitel schlägt der Band noch einmal eine andere Tonlage an. Was zuvor eine eher kontemplative Betrachtung über Landschaftsmalerei war, wird fast zu einem Historienthriller voller spannender Einzelheiten.

Passend zum Inhalt ist ›Die Wächter des Louvre‹ auch auf der formalen Ebene eine Begegnung japanischer und französischer (Comic-) Kultur – und gleichzeitig ein stimmiger Schritt in Taniguchis künstlerischem Werdegang, der sich schon seit Langem vom klassischen Manga hin zur europäischen Comickunst bewegt. Taniguchi verzichtet hier auf jede manga-typische Expressivität, hat seinen Stil auf sehr einfache, klare Zeichnungen reduziert und setzt statt der üblichen Graustufenkolorierung sehr fein aufgetragene Aquarellfarben ein, sodass vor allem seine sehr detailgenaue Wiedergabe der Pariser Architektur wie aus einem klassischen französischen Comicalbum wirkt. Allerdings hat er die mangatypische Leserichtung von rechts nach links beibehalten, außerdem die sehr ausführliche Erzähltechnik, in der die Szenen sich hoch aufgelöst über viele Seiten erstrecken. In dieser Auflösung sieht man ihm noch die Souveränität eines alten Hasen an, die sich sonst geschickt hinter den reduzierten Figuren versteckt. Gewöhnungsbedürftig mutet in diesem stimmigen Gesamtkonzept nur die Gestaltung der geisterhaften Wächter als unförmige, bunte Wolken an, die durch den Louvre schweben und auf ungute Art an gewisse organische Substanzen erinnern.

Poetisch und plakativ

Dass Taniguchi darauf verzichtet, die Bilder von Corot oder Van Gogh als Faksimile in seine Zeichnungen einzufügen, sondern sie selbst in seiner eigenen Aquarelltechnik nachstellt, hat Vor- und Nachteile. Es lässt die Comicseiten homogener wirken, macht aber die von ihm viel beschworene meditative und fast transzendierende Wirkung der Malerei zu einer Behauptung, für die Taniguchi nicht die Originale, sondern nur deren von ihm geschaffenes Abbild als Beweis anführen kann. Das funktioniert bei der Mona Lisa, deren Lächeln ein Gemeinplatz ist, bei unbekannten Bildern aber weniger. So kann er nicht darauf vertrauen, dass die magische Wirkung der Bilder Corots auch beim Leser einsetzt – und muss diese immer wieder auf der Textebene bekräftigen. Das führt zu einer sehr textlastigen Beschreibung von Wirkungen, die man als Leser in diesem Moment lieber erleben als beschrieben bekommen möchte. An diesen Stellen fordert der Comic dem Leser viel Geduld und Einfühlungsvermögen ab – oder wird seine Wirkung verfehlen.

Am Ende des Albums wartet die Geschichte dann noch mit einer sehr unerwarteten Wendung auf, die die Erlebnisse des Protagonisten noch einmal auf eine ganz neue, emotionale Ebene heben. Allerdings geschieht das recht unerwartet und trägt zu einem Eindruck bei, der sich bei der Lektüre dieses Albums immer wieder aufdrängt: So liebevoll und gekonnt dieser Comic auch gestaltet ist, irgendwie wollen seine Einzelteile nicht recht zusammenpassen. Die Rahmenhandlung versucht, Kunstbetrachtung, Geschichtsreportage, märchenhafte Symbolebene und undefinierbar Autobiografisches zusammenzubringen – und kann dabei fast nur scheitern. Statt einer stringenten künstlerischen Vision zu folgen (wie in vielen seiner berühmten Comicalben) versucht Taniguchi hier einen Spagat zwischen ambitionierter Auftragsarbeit mit kunsthistorischem Anspruch und einem Werk mit ganz persönlicher Note. Für Fans von Taniguchi oder Kunstliebhaber sicherlich lesenswert, ist das Album so insgesamt, trotz vieler poetischer und magischer Momente, doch nicht mehr als die Summe seiner einzelnen Teile.

| BORIS KUNZ

Titelangaben
Jiro Taniguchi : Die Wächter des Louvre (Les Gardiens du Louvre)
Aus dem Japanischen von John Schmitt-Weigand
Hamburg: Carlsen Verlag 2015
136 Seiten, 29,90 Euro
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Über Taniguchi (Wikipedia)
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