Sachbuch | Steve Ayan: Lockerlassen
Morgens aufgewacht und schon auf Turbo geschaltet: Unser Gehirn vollbringt jeden Tag Höchstleistungen. Immer mehr denken, immer bewusst denken, mehr erreichen! Für viele ist das der richtige Weg, denken sie. Da wir jeden Tag Bestleistungen erzielen möchten, um erfolgreicher zu sein oder ständig an unserer eigenen Haltung arbeiten, um glücklicher zu sein, haben wir verlernt, die Gedanken bewusst schweifen zu lassen. Können wir eigentlich auch einfach einmal »nicht denken«? Und wenn ja, können wir, wenn wir die Kontrolle abgeben, trotzdem noch an die Spitze oder zum Glück gelangen? Sie werden staunen. Von MONA KAMPE
Vorsicht, der Bewusstseinskult greift um sich: Folgen Sie ihm bereits? Schauen Sie einmal in den Spiegel – was sehen Sie? Können Sie sich ganz auf sich konzentrieren oder schwirren Ihnen bereits Tausende Gedanken im Kopf herum – vom neu erblickten Fältchen bis hin zu Wochenendplänen?
Sich auf sich zu konzentrieren, fällt den meisten nicht leicht – »wie ein glitschiges Stück Seife entwischt« ihnen der eigentliche Fokus auf sich selbst, denn sie sind von zahlreichen Impressionen, Assoziationen und Einflüssen umgeben. »Sobald ich den Blick von der Welt abwende, ist auch meine individuelle Sicht darauf passé. Das Subjekt braucht ein Objekt, um sich darin zu spiegeln.«
Bewusst denken wird daher von vielen als der Weg zu mehr Zufriedenheit und Erfolg angesehen. Tagträume und Leidenschaften sind antithetisch reine Zeitverschwendung.
Wer sich nicht konzentriert oder auf sich und seine Gedanken achtet, hat schon verloren. Denken hilft den Optimierungsbestrebten immer – sie durchdenken alles, haben jede Situation unter Kontrolle – oder etwa nicht? Denn wenn sie nicht alles im Griff haben, kehren Gefühle wie Machtlosigkeit, Unsicherheit und Ängstlichkeit in ihren Alltag ein.
Doch wie kommt es eigentlich, dass wir gerade, wenn wir uns bemühen, unser Bestes zu geben, versagen? Bewusst denken sollte doch gerade das vermeiden? Es ist eigentlich recht simpel: Wir sind überfordert und diese Überforderung führt zu Unkonzentriertheit, Stress und Depressionen. Wenn wir uns an unseren Gedanken festklammern, verlieren wir den Schwung, den wir brauchen, um voranzukommen. Doch wie geht eigentlich Lockerlassen?
›Serendipität‹, ››Embodiment‹ und Intuition als wichtige Weggefährten des Denkens
»›Serendipität‹ heißt zu entdecken, worauf man gerade nicht aus war.« Sie ist die »Fähigkeit, den Zufall zu bezirzen.« Hierfür benötigen wir vor allem Eigenschaften wie Experimentierfreude, Offenheit, Beobachtungsgabe und Erfahrung, mit Hilfe derer wir bahnbrechende Beobachtungen machen oder unglaubliche Ideen entwickeln können. Auf diesem Überraschungsprinzip beruhen bekannte Entdeckungen wie etwa das Röntgenbild oder das Penicillin. Doch auch «die alltäglichen Glücksfälle gründen auf Neugier und dem Vermögen, sich von Fehlschlägen nicht abschrecken zu lassen.« Haben Sie Ihre große Liebe zufällig kennen gelernt oder hatten einen Geistesblitz im Berufsleben, der für Ihre Beförderung gesorgt hat? Unheimliches Glück existiert vor allem für diejenigen, deren Geist dafür offen und empfänglich ist und die dem eigenen Scheitern mit heiterer Gelassenheit entgegensehen – denn das macht es umso unwahrscheinlicher. Denn oft versagen wir, wenn wir uns zu sehr auf etwas konzentrieren.
Motorische Routinen bestimmen unseren Alltag: Zähne putzen, Türschloss öffnen, Schnürsenkel binden. Wenn wir versuchen, diese automatisierten Abläufe zu verändern, können wir sie nicht mehr wie gewohnt durchführen. Dasselbe geschieht, wenn wir unter Druck stehen oder Lampenfieber haben und uns darauf konzentrieren, keine Fehler zu machen – die Sache geht schief! Auch die Leistung von Sportlern nimmt ab, wenn sie ihre Bewegungen fokussieren. ›Embodiment‹ bedeutet in diesem Szenario »Verkörperung des Geistes«. Mit Selbstbewusstsein, Akzeptanz und soziale Beziehungen können wir den Blick von uns weg nach außen richten und Ängste sowie Selbstzweifel bändigen, denn depressive Menschen blicken meist nach innen und verstärkt auf sich selbst. Seine eigenen Grenzen hinzunehmen, ist nicht leicht, aber ein Schritt zum Glück ist es, weniger Aufheben um sie zu machen.
Und welche Rolle spielt nun die Intuition? Steht sie doch mit ihrem Bauchgefühl und Herzleiten kontrastiv zu dem bewussten Denken. »Anders als beim schrittweisen Schlussfolgern ergeben sich intuitive Urteile unmittelbar. Sie kommen über uns, oft, wenn wir gerade nicht damit rechnen.« Doch auf das Bauchgefühl zu hören, ist nicht leicht, denn wir haben nur einen beschränkten Einblick in unser Inneres. Äußere Einflüsse werden bei der Urteilsfindung meist ausgeblendet – dabei reden wir andern viel öfter nach dem Mund, als wir glauben! Die eigenen Überzeugungen sind situationsbezogen, nicht fest, wie wir gerne behaupten! Somit ist unser Selbstbild sehr wechselhaft, Reflexion allein reicht nicht aus, um zu klären, wer wir sind – wir müssen es erfahren. Andere helfen dabei, uns neue Sichtweisen zu eröffnen. »Denken und Fühlen, Ratio und Intuition, Bewusstsein und Unbewusstes – diese Begriffe beschreiben nur Eckpunkte von Prozessen, die permanent ineinandergreifen.« Doch was passiert, wenn das Gehirn auf Leerlauf schaltet?
Mind wandering and rolling with the flow
»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier – er ist auf erlernte Automatismen angewiesen.« Der Geist ruht nie – er schafft ständig neue Routinen und Verknüpfungen, mit dem Ziel zu handeln, statt bewusst zu denken. Wenn wir unsere Gedanken schweifen lassen, begeben wir uns in einen ›Default-Modus‹, der eng mit dem Tagträumen verknüpft ist. Dieses Abschweifen nehmen wir meist erst bewusst war, wenn es vorbei ist. Das Gehirn simuliert ähnlich wie im Schlaf mögliche Erlebnisse und Szenarien, die wir beim Aufwachen schon wieder vergessen haben. Dieses ›mind wandering‹ schafft Raum für Kreativität, neue Pläne, Ideen, Ansichten, Perspektiven und die Möglichkeit, über sich selbst hinauszuwachsen.
Jeder war sicher schon einmal im ›Flow‹, im Rausch der Bewegung – etwa beim Sport -, in dem man sich selbst überwindet und alles andere um sich herum vergisst, sowie eins wird mit sich und der Welt. Diese ›epiphanischen‹ Augenblicke der Selbstvergessenheit und des Über-Sich-Hinauswachsens erleben wir zumeist in der Kunst, der Religion, beim Theaterspielen, beim Lesen. Wir lernen durch sie, die eigene Nische zu finden, das, was uns begeistert. Wir gehen in ihnen auf, unsere Sorgen für diesen Moment unter. Das Glück liegt im Lockerlassen, keine Angst davor zu haben, sich einfach auch einmal treiben zu lassen, um danach die Zügel umso fester in der Hand zu halten.
Steve Ayan, Psychologe und Redakteur, analysiert in seinem Buch den um sich greifenden »Bewusstseinsfimmel« und nimmt seine Rezipienten mit auf eine aufschlussreiche, amüsante Reise ins eigene Ich. Anhand von erkenntnisreichen (Leser-)Experimenten, wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und praxisnahen Alltagsszenarien entwickelt er einen Leitfaden für ein erfolgreicheres, glücklicheres Leben jenseits des Perfektionismus- und Optimierungsstrebens durch bewusstes Denken.
Titelangaben
Steve Ayan: Lockerlassen – Warum weniger Denken mehr bringt
Stuttgart: Klett-Cotta 2016
244 Seiten, 16,95 Euro
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